Sigmar Gabriels Homo-Bashing: Wer gleiche Rechte gegen Gerechtigkeit ausspielt, kann kein Sozialdemokrat sein

Foto: (c)Maurice Weiss

Sobald die Zeiten rauer werden, geht es auf die Minderheiten. Die Minderheiten wissen das, sie haben dafür ein feines Gespür. Der Mehrheitsgesellschaft fehlt nicht nur dieser Sinn, sie halten die Warnungen ihrer Minderheiten in der Regel für übertrieben, für wichtigmachend, für selbstbezogen. Damit es eine Debatte über den anwachsenden Antisemitismus in Deutschland geben konnte,  müssen schon vor dem Brandenburger Tor Israel-Fahnen verbrannt werden.

Wie wichtig es war, die Ehe für alle in trockene Tücher zu fahren, bevor auch in Deutschland der populistische Mainstream im Parlament sitzt, bevor die Dehnung des Sag- und Machbaren immer weitere als selbstverständlich angesehene liberale Errungenschaften überrennt, werden wir wohl erst in einigen Jahren so richtig ermessen können.

Aber schon jetzt kann man sich vorstellen, was es bedeutet hätte, wenn der Kampf um die Ehe für alle jetzt noch offen wäre. Wie etwa der zukünftige bayerische Ministerpräsident zu seiner Profilierung und Abgrenzung auch die Homos für sein Minderheiten-Bashing instrumentalisiert hätte. Was das für die Bestrebungen führender CDU-Landespolitiker bedeutet hätte, die Partei in eine rechtere, konservativere Richtung zu führen. Wie der Krach um Jamaika auch ein Krach um die Homosexuellen hätte sein können, wenn sie möglicherweise sogar als Co-Sündenbock für dessen Scheitern hätten herhalten müssen.

Man stelle sich vor, die Gleichstellung wäre noch nicht da und jetzt gäbe es Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD. Und die Sozialdemokraten würden ihre kalten Füsse, die sie aus Angst vor ihrem Bedeutungsverlust haben, versuchen dadurch zu durchbluten, dass sie gegen Minderheiten treten. So wie Sigmar Gabriel, amtierender geschäftsführender Außenminister und ehemaliger Parteivorsitzender, es ihnen heute in einem SPIEGEL-Artikel empfiehlt.

„Das Übermaß, die Radikalität der Postmoderne ist es, die das Unbehagen nährt“,

schreibt Gabriel und vertuscht nur oberflächlich, dass er damit auch die Gleichstellung Homosexueller meint. Schon im nächsten Absatz heißt es:

„Auch wir haben uns kulturell als Sozialdemokraten und Progressive oft wohlgefühlt in postmodernen liberalen Debatten. Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit, und die Ehe für alle haben wir in Deutschland fast zum größten sozialdemokratischen Erfolg der letzten Legislaturperiode gemacht und nicht genauso emphatisch die auch von uns durchgesetzten Mindestlöhne, Rentenerhöhungen oder die Sicherung Tausender fair bezahlter Arbeitsplätze bei einer der großen Einzelhandelsketten.“

Das ist erstens gelogen.

Denn es gab große Kampagnen, Pressekonferenzen, die die sozialpolitischen Erfolge der SPD in der großen Koalition herausstellen sollten. Die SPD war stolz, sie hat es jedem erzählt. Es wollten aber offensichtlich weniger Menschen hören, als sich das die Partei unter ihrem Chef Sigmar Gabriel gewünscht hätte.
Und daran soll jetzt ernsthaft die Ehe für alle Schuld sein? Oder der Stolz der SPD, sie mit ermöglicht zu haben? Ernsthaft?

Zweitens stimmt es politisch nicht.

Bei den Themen Umwelt- und Klimaschutz geht es um Verteilungskämpfe. Klimaziele haben mit Arbeitsplätzen zu tun. Jede Entscheidung in diesen Bereichen nimmt den einen und gibt den anderen. Hier prallen unterschiedliche Interessen aufeinander.

Das ist bei der Ehe für alle komplett anders. Sie ist politisch eine ganz andere Kategorie: Sie war ein überfälliger gesellschaftlicher Emanzipationschritt. Eine Menschenrechtsfrage.
Oder, um es einfacher zu sagen: Die Ehe für alle nimmt niemandem etwas weg. Sie führt dazu, dass die Gesellschaft humaner, gesünder ist. Für alle.

Ein Sozialdemokrat, der das nicht nur abstreitet, der sogar so tut, als wäre das Kümmern um soziale Gerechtigkeit in irgendeiner Art und Weise negativ tangiert durch das Zubilligen gleicher Rechte, kann eigentlich kein Sozialdemokrat sein.

Gabriel schreibt:

„Ich weiß, das ist alles sehr holzschnittartig und provokativ. Und ich weiß vor allem, wie wichtig Umwelt- und Klimaschutz, Datenschutz und vor allem gleiche Rechte für jedwede Art von Lebensentwürfen sind. Und trotzdem müssen wir uns in den sozialdemokratischen und progressiven Bewegungen fragen, ob wir kulturell noch nah genug an den Teilen unserer Gesellschaft dran sind, die mit diesem Schlachtruf der Postmoderne „Anything goes“ nicht einverstanden sind. Die sich unwohl, oft nicht mehr heimisch und manchmal auch gefährdet sehen.“

Sigmar Gabriel hat den historischen Kontext der Ehe-Entscheidung nicht verstanden und somit auch nicht die historische Leistung der SPD. Schlimmer noch, er zertrümmert die Meriten, die sich die Partei erworben hat, und damit auch den politischen Wert, den diese im Wettbewerb der Parteien besitzen. Es waren die sozialdemokratischen Parteien, die als erste die Forderung nach einem Frauenwahlrecht in ihr Programm aufnahmen. Und Marie Juchacz, die erste Frau, die am 19. Februar 1919 vor einem deutschen Parlament sprach, war eine Sozialdemokratin. War das auch „Anything Goes“? Wo ist der Unterschied? Wieso soll es jetzt Aufgabe der SPD sein, gesellschaftliche Emanzipation zum Luxus, zur kulturellen Geschmacksfrage zu degradieren?

Gabriel bestätigt nicht nur die Ängste, die Homosexuelle davor haben, zum Punchball der Populisten zu werden, zum Symptom für die Spaltungserscheinungen in der Gesellschaft gemacht zu werden. Er verrät auch die SPD, weil er das einzige verrät, wofür die SPD heute gebraucht wird:

Das Ringen um den Zusammenhalt der Gesellschaft. ♦

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5 Gedanken zu „Sigmar Gabriels Homo-Bashing: Wer gleiche Rechte gegen Gerechtigkeit ausspielt, kann kein Sozialdemokrat sein

  1. Die Errungenschaft des Frauenwahlrechts mit der Ehe für alle zu vergleichen, halte ich schon für sehr vermessen. Die Ehe ist und bleibt die Krönung der Heteronormativität. Das jetzt einige Schwule und Lesben, diese Heteronormativität nachleben können, ist schön und gut. Aber eine Errungenschaft auf dem Weg zu Diversität und Gleichsetzung aller Formen des Zusammenlebens ist es auf keinen Fall. Deshalb ist die Ehe für alle im historischen Kontext betrachtet etwas rückwärtsgewandtes und kein Meilenstein des Fortschritts, wie die Einführung des Frauenwahlrechts.

  2. Pingback: Neue Heimat: Gabriels Schwenk nach rechts - krisentheorie

  3. Man kann schon auch der Auffassung sein, dass es kulturell, identitär oder wie auch immer man das nennen mag auch bei der Ehe für alle um einen Verteilungskonflikt geht. Und zwar in dem Sinne, dass hier nicht materielle oder finanzielle Ressourcen verteilt werden, sondern eben – aus der Sicht mancher (Unaufgeklärter…?) – die Ressource Identität. Dass also doch gilt: Wenn jetzt auch zwei Männer heiraten dürfen, ist dann meine Ehe mit meiner Ehefrau (sagt der Ehemann) nicht irgendwie gerade relativiert worden… [Ich, der Kommentator, sehe das alles nicht so, aber ich versuche die Aversion mancher gegen Homo-Ehe, Leihmutterschaft etc. (?) „gesellschafts- (oder ist es individual?)psychologisch“ zu verstehen. Ich denke nicht, dass es mir gelingt, soviel sei gesagt…].
    Diese somit als Relativierungen wahrgenommenen Entwicklungen bedrohen ihre Identität.
    Und somit – ob das nun faktisch stimmt oder nicht – geht es doch um Verteilungskämpfe. Ihnen wird Identität weggenommen, die andere im gleichen Gegenzug – wiederum in der Auffassung und im Diktum derjenigen, denen „weggenommen“ wird – „schrill“ feiern und mit einer Berichterstattung darüber bedacht werden, die ihrem prozentualen Stellenwert in der Gesellschaft doch so gar nicht entspricht. Und weil gesellschaftliche Realität ganz stark durch Medien geformt wird, bestätigt sich in diesem letzten Schritt dann die Annahme derer: Die erhalten eine Mords-Aufmerksamkeit… wo bleibe ich?
    Wenn das mal kein Verteilungskampf ist.

  4. Dieser Artikel von Sigmar Gabriel ist leider nicht ‚provokativ‘, sondern er beschreibt das Ende der SPD.
    Mit Argumenten kommt man gegen die Erosion der Haltung nicht an, machttaktisches Kalkül statt einer Vision für das Ganze — das treibt aktuell viele SPDler an und sie sind nicht der Auseinandersetzung ums bessere fähig.
    Die SPD braucht die GRÜNEN als Partner und Korrektiv, doch das ist ‚unmodisch‘. Eine traurige Lage.

  5. Ich bin schwul und fande und finde den Hype um die Ehe für alle total überzogen.

    Mich ärgert es mittlerweile schon, dass sich viele (vor allen Dingen Prominente, die sich, so mein Verdacht, hiermit vor allen Dingen profilieren wollen) aus der schwul-lesbischen Szene hinstellen und so agieren, als ob DIES der größte feuchte Traum aller Schwulen (nur für die kann ich sprechen..wie Lesben das sehen, kann ich nicht sagen) seit Gründung der Bundesrepublik…ach was sage ich…seit der Varusschlacht gewesen wäre, endlich dem heteronormativen Idealbild nachzueifern und aufs Standesamt zu rennen.
    Wer die „Ehe als Emanzipationsschritt“ nötig hatte, der beweist nur, dass er sich in seiner Haut nicht wohl fühlt und Probleme mit seinem Schwulsein hat…und das soll auf einmal hoppla verschwinden? Ein frommer Wunsch nach meinem Dafürhalten.

    Ich finde auch, dass die schwule Szene ganz andere Probleme hat, die sie teilweise totschweigt oder nicht einmal offen anspricht…die immer weiter um sich greifende Drogensucht…teilweise verniedlichend als PnP verharmlost oder aber ein gravierendes mit dem totschweigen älterer Schwuler und ihren Lebensumständen. Und…just btw. diese beide Personengruppen machen ein vielfaches der Heiratswütigen aus.

    Wo waren auch diese ganzen schwulen Prominenten als es darum ging, ihre Stimme zu erheben, als es darum ging, eine angemessene Entschädigung für die rauszuholen, die aufgrund des §175 im Knast einsaßen? Mir fällt i.d.Zshg. tatsächlich nur Volker Beck ein.

    Auf den Beitrag von Gabriel zurückkommend, kann ich ihm größtenteils nur beipflichten und ich kann nicht feststellen, dass er gleiche Rechte gegen Gerechtigkeit ausspielte.
    Ihm noch dazu ein „Homo-Bashing“ zu attestieren…ist tatsächlich sehr weit daneben und man fragt sich echt, wie man zu einem solchen Fazit kommen kann?

    Und, was die von Kram angesprochene angebliche Angst vor Rechtspopulisten anbetrifft..in Schöneberg und rund um den Kotti und am Hermannplatz muß ich mehr Angst vor irgendwelchen hormongesteuerten homophoben männlichen Muslimen und Gangmitgliedern aus Osteuropa haben. Diese Erkenntnis paßt zwar manchem nicht, gleichwohl stimmt sie aber, wenn man einen Blick auf die Täteranalysen homophober Hassgewalt wirft.

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