Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis ich überblicken kann, was ich da gestern erlebt habe im Bundestag und drumherum und dann auch hier versuchen werde, das einigermaßen darzustellen.
Ich habe das Gefühl, dass es gerade vielen von uns so geht: Dass wir uns in einem neuen, unbekannten Modus fühlen.
Es ist eine Zwischenzeit. Eine scheint gerade vorbei gegangen. Aber die andere ist noch nicht da, doch wir spüren sie schon in unterschiedlichen Dosen, von überwältigend bis homöopathisch, also so, dass wir gar nicht wissen, ob wir nun gerade etwas spüren, oder ob wir vor allem spüren, dass wir etwas spüren müssten. Viele haben mir erzählt, dass sie immer wieder weinen müssen. Vor Glück. Aber auch vor Wut. Über die Ehen, die es nicht geben durfte und jetzt nicht mehr geben kann, weil es manche Menschen nicht geschafft haben so lange zu leben, bis Angela Merkel das Gewissen entdeckt hat. Über die vielen, vielen Demütigungen und die Tatsache, dass unsere Regierung den Moment der Gleichstellung noch mit einer alles krönenden Demütigung verbindet, die darin besteht, dass das eigentlich Passierende vor allem ein Machtspiel war. Dass wir in diesem Spiel die Gleichstellung gewonnen haben, scheint unter politischen Kategorien vor allem ein Nebeneffekt zu sein.
Viele haben gesagt, dass der Wutauftritt von Johannes Kahrs etwas Würdeloses hatte. Ich sehe das anders. Ich finde, dass er entscheidend dazu beigetragen hat, dass es da gestern etwas Würde gab im hohen Haus. Nein, es durfte gestern nicht nur darum gehen, möglichst viele Unionsabgeordnete zu bezirzen. Es musste auch deutlich gemacht werden, dass die wahre würdelose Aggression im Verhalten von Merkel und Co. lag und liegt, die bis zum Schluss am Eheverbot festhielten um mit Ressentiments gegen uns die Ultras in den eigenen Reihen zu befrieden. Dass wir diejenigen in der Gesellschaft waren, die dafür bezahlen mussten, dass andere vermeintlich konservative Dinge nicht mehr da sind und an uns nun ein Exempel statuiert werden muss für all diese Dinge, mit denen wir gar nichts zu tun haben.
Viel war gestern davon zu hören, dass es jetzt darum gehen müsse, dass sich beide „Seiten“ mit Respekt begegnen müssten. Ich kann damit nichts anfangen und wir müssen aufpassen, dass sich hier nicht die Ebenen vermischen: Es gibt die einen, die diskriminieren wollen und die anderen, die diskriminiert werden und natürlich haben die, die diskriminieren wollen nicht den gleichen Respekt verdient. Wie gesagt, es braucht noch etwas Zeit, bis ich das alles für mich besser einordnen kann, was gerade passiert, aber einen Unterschied habe ich gestern nach der Abstimmung bereits gemerkt: Das Kulturradio vom RBB hatte mich für einen Talk zum Thema „Ehe für alle“ eingeladen, und als ich dann im Studio mit eingespielten Höreranrufen konfrontiert wurden, in denen wieder der ganze unsägliche Mist wiederholte wurde, mit dem wir uns seit Jahren auseinandersetzen müssen („Es geht um unsere Kinder“ …), da ist mir aufgefallen, dass ich mich ganz plötzlich in einer anderen Position befinde. Natürlich bin ich bereit, auch hier noch gegen zuhalten, versuchen zu erklären, aufzuklären, wenn das von mir gewünscht wird. Aber die Seiten haben sich gewechselt: Ich will nichts mehr von ihnen, ich muss sie nicht mehr überzeugen, ich muss sie nicht mehr anbetteln, ihre Rechte mit mir zu teilen. Die Geschichte ist einen Schritt weiter gegangen, und sie haben sich entscheiden, diesen Schritt nicht mitzugehen. Jetzt kann ich ihnen helfen, wenn sie das wollen. Aber ich bin nicht mehr der, der hier infrage steht. Mein Parlament, mein Staat ist bereit, mich und meine Position zu schützen. Ich glaube, ich werde lange brauchen, bis ich verstanden habe, was das wirklich heißt.
Wahrscheinlich werden die Straßen und Plätze, die jetzt nach Helmut Kohl benannt werden, größer und mächtiger sein, als die, die man irgendwann (was hoffentlich noch sehr lange dauern wird) in das Gedenken von Volker Beck stellen wird. Aber ich bin mir sicher, dass man sich besonders schöne Straßen und Plätze dafür aussuchen wird. Und dass man da nicht nur durchfahren und drüber gehen wird, sondern extra hingehen, dableiben. Dass man an eine Zeit erinnern wird, die man sich gar nicht mehr vorstellen kann. Und die aber trotzdem auch noch in den Knochen derer stecken wird, die nach uns kommen. Lasst uns nicht vergessen, dass die unseren noch vor nicht vielen Jahren ins Gefängnis kamen für das, was sie waren und das wir sind. Und dass die Sklaverei in den USA schon so lange abgeschafft wurde und es trotzdem immer auch Rassismus geben wird. So wie es immer Homophobie geben wird. Der gestrige Tag wird uns verändern, er wird unser Land verändern. Und was er wirklich bedeutet, werden wir wohl erst nach und nach verstehen.
Auch deshalb: Wäre der 30. Juni nicht ein wunderbarer Feiertag? Gerne im Tausch mit Pfingstmontag?
Dass ich so was mal hier schreiben würde: Fühlt Euch gedrückt. Lasst uns nicht vergessen, wer wir bis gestern waren. Es ist eine Zwischenzeit. Es wird viel passieren. Lasst uns aufeinander aufpassen. ♦
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Der 20-minütige Talk mit mir im Kulturradio ist eine Woche lang hier zu hören
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Du hast völlig recht. Die Rede von Johannes Kahrs war keineswegs würdelos. Sie war das Glanzlicht der kurzen Debatte. Da ist die Wut, die Empörung eines Mannes hervorgebrochen, der -wie wir alle- seit vielen Jahren von Angela Merkel verachtet und gedemütigt wurde. Diese Rede war notwendig, das Parlament, die Öffentlichkeit, nicht zuletzt der schwul-lesbische Teil des Volkes hat sie gebraucht. Sie wird für immer im Sitzungsprotokoll stehen, und man wird stets nachlesen können, dass wenigstens einer aufgestanden ist an diesem Tag der verlogenen Pseudo-Harmonie und die Wahrheit gesagt hat. Diese Rede hat uns die Würde zurückgegeben, die Angela Merkel uns geraubt hatte.
Lieber Johannes,
ich finde die Freude und Erleichterung, die ich in Worten und Bildern derjenigen spüre und sehe die so lange und vehement für dieses Recht gekämpft haben sehr berührend. Es muss sehr schön sein, das zu erleben und ich gönne es euch von ganzem Herzen!
Gleichzeitig erlebe ich als trans* Person ein großes Gefühl der Beklemmung. Zum einen steigt eine Angst in mir hoch, dass diejenigen die noch für ihre Rechte weiterkämpfen müssen plötzlich auf sich gestellt sein könnten. Es ist sicher keine ganz rationale Befürchtung (aber Ängste sind nun mal nicht rational), aber die Angst ist da, dass wir einen Teil der Aktivist*innen die für LGBTIQ Rechte gekämpft haben verlieren, weil ihr Ziel erreicht ist. (Umso dankbarer bin übrigens Volker Beck dafür, dass er immer wieder und auch jetzt in den letzten Tagen die Abschaffung des TSG fordert!).
Zum anderen habe ich ziemliche Angst vor einem Backlash. Die „kritischen“ Stimmen (die in Wirklichkeit meistens nur mehr oder weniger dürftig kaschierte Homofeindlichkeit waren) die da in den letzten Tagen auf allen Kanälen zu hören und zu lesen waren verschwinden nicht einfach so. Und anders als du es für dich im Artikel beschreibst bin ich zusammen mit vielen anderen aus dem LGBTIQ umbrella noch nicht in einer anderen Position als vorher. Wir sind immer noch die, die etwas „wollen“ – rechtliche Anerkennung unseres Geschlechts ohne Pathologisierung und demütigende Eingriffe in unsere Privatsphäre und Selbstbestimmung zum Beispiel; überhaupt Anerkennung von Geschlechtern, die nicht (oder nicht ausschließlich) in die Kategorie „Mann“ oder „Frau“ passen; und vieles mehr. Die Öffnung der Ehe war ein lange, lange überfälliger Schritt. Aber angesichts der Stimmen die da laut wurden habe ich echt Angst, dass wir in Bezug auf unsere Rechte demnächst noch häufiger hören werden „Was wollt ihr denn noch? Jetzt muss es aber langsam wirklich mal gut sein!“. Ich weiß, dass das nicht deine Meinung ist (nicht zuletzt wegen deines Artikels über den wir uns mal „gestritten“ haben ;)) und dafür bin ich sehr dankbar. Ich hoffe einfach dass viele aus dem LGBTIQ umbrella nach diesem Meilenstein gemeinsam weiterkämpfen und ich wünsche mir sehr, dass dieser Meilenstein eher ein Anfang ist als ein Ende!
Lieber Jonas,
ich kann diese Angst verstehen und ich habe sie auch. Aber auch wenn ich sie uns beiden damit nicht nehmen kann: Ich habe gestern niemanden getroffen, der nicht als nächsten Schritt nicht eindeutig an erster Stelle ein neues Transsexuellengesetz gefordert hätte, so wie Volker in seiner Rede und natürlich auch ich z.B. in diesem Radiointerview. Diese müßige jahrelange und teils surreale Diskussion über die Ehe für alle, hat vieles vernebelt, was wichtig ist. Und ich habe die Hoffnung, dass wir nun noch deutlicher angehen können, was liegengeblieben ist. Auch hier in diesem Blog.
Danke Dir Johannes 🙂 Ich hab das Radiointerview noch nicht gehört – hole ich aber nach! Ich bin es gerade so leid, dass selbst zu solchen schönen Anlässen immer die „Kritiker“ zu Wort kommen (was ja dort anscheinend mit den eingespielten Kommentaren auch der Fall war). Ich brauchte etwas Abstand ;).
Aber das mit dem „vernebeln“ und der „surrealen Diskussion“ ist sehr passend ausgedrückt. Es ist wichtig, diesen schon so lange überfälligen Schritt endlich geschafft zu haben. Und ich wünsche mir sehr, dass es wirklich dabei hilft ein Stück mehr „Normalität“ und einfach ein bisschen mehr Ruhe in viele Leben zu bringen.
„Aber ich bin nicht mehr der, der hier infrage steht. Mein Parlament, mein Staat ist bereit, mich und meine Position zu schützen. Ich glaube, ich werde lange brauchen, bis ich verstanden habe, was das wirklich heißt.“
Lieber Johannes,
ich war die Woche vor der Entscheidung furchtbar angespannt. Obwohl ich eigentlich dachte, dass selbst von einem positiven Ergebnis nicht allzu viel zu erwarten sei. Es würde sich ja sicherlich nicht alles einfach so ändern, nur weil es plötzlich ein weiteres Gesetz gibt. Ist ja doch nur ein weiterer Schritt auf dem langen Weg zur Anerkennung.
Dann diese unsägliche Debatte im Expresswaschgang, als dürfe jeder nochmal eine Synopsis von seiner Position geben, die er eh‘ schon tausendmal zuvor abgespult hat (wenigstens hat Kahrs noch den Schleudergang eingelegt und Luczak die Wäschestärke zugefügt – um im Bild zu bleiben). Nachdem ich schließlich das Ergebnis gehört hatte, wusste ich auch erst mal nicht, was ich damit anfangen soll. Zum Trocknen aufhängen?
Dann aber, wie ich ein paar Stunden später durch unser Dorf ging und mit den Leuten sprach, ist mir aufgefallen, dass ich mich 10cm größer fühle! Es war, als hätte ich mich innerlich aufgerichtet. Und das Gefühl hält an.
Zu Deinem Vorschlag zur Einführung eines Feiertags am 30. Juni möchte ich darum ergänzen: Feiertag oder nicht – lasst uns doch in Zukunft an diesem Tag ganz besonders groß sein :)) Ich jedenfalls hab’s mir fest vorgenommen.
P.S. Das mit Pfingstmontag im Tausch ist eine interessante Idee! Es heißt zwar dann wieder: „Jetzt haben die Homos uns auch noch das christliche Pfingstfest kaputtgemacht. Als hätte das mit der Ehe noch nicht gereicht.“ Aber das kennen wir ja jetzt, und wir können routiniert damit umgehen.