Tage7Blogger – 6. Tag
Willkommen zur schwulen Bloggerwoche. Anläßlich des Siebenjährigen dieses Blogs schreibt eine Woche lang jeden Tag ein anderer schwuler Blogger über die letzten sieben Jahre: Was bedeuten sie für die homosexuelle Emanzipationsbewegung, was für das schwule* Leben in Deutschland? Was hat sich verändert, wo standen wir damals, wo stehen wir heute?
Gefangen in der schwulen Zeitschleife
von Micha Schulze / queer.de
Vor einigen Monaten konnte ich mein 25-jähriges Jubiläum im Homojournalismus feiern. In meinem ersten Eldoradio-Beitrag ging es um „homosexuelle“ Tiere. Gewalt gegen Schwule war damals ein großes Thema, natürlich der Paragraf 175, die böse katholische Kirche, der Grand Prix (den meine jüngeren Kollegen als Eurovision Song Contest kennen), Fieses in der Heteropresse oder „Clause 28“, das Verbot von „Homopropaganda“ an britischen Schulen. Wie gesagt, das war Anfang der 1990er Jahre. Manchmal habe ich das Gefühl, wie Captain Picard in einer Zeitschleife gefangen zu sein, ständig irgendwie dasselbe zu schreiben, und wünschte, ich hätte doch besser was Anständiges gelernt.
Das einzige Mal, wo mich das Gefühl ereilte, es gehe in der Bundesrepublik bei LGBT-Rechten voran, ja ich sogar fast ein wenig stolz war auf mein Land, das war um die Jahrtausendwende. Die rot-grüne Bundesregierung nach 16 muffigen Jahren Helmut Kohl war ein Befreiungsschlag für Lesben und Schwule. Trotz Dauerzank zwischen SPD und Grünen wurde das Lebenspartnerschaftsgesetz auf den Weg gebracht, homosexuelle Paare erstmals vom Staat anerkannt. So schlecht das Rumpfgesetz auch gestrickt war – ein historischer Moment!
Beim Inkrafttreten des LPartG gab es das „junge“ Nollendorfblog noch nicht, es ging erst 2009 an den Start. Doch als ich mir jetzt seine Themen der ersten Monate anschaute, musste ich dann doch schmunzeln: ein homophober Übergriff auf Schwule in Berlin, die böse katholische Kirche, der Eurovision Song Contest, natürlich Fieses in der Heteropresse.
Was wäre ich heute froh, wären wir in dieser schwulen Zeitschleife nur weiter gefangen geblieben und müssten nur den Dauerkrampf um die Gleichstellung eingetragener Lebenspartner immer wieder aufs Neue ertragen. Doch immer mehr bekomme ich leider das Gefühl, dass wir in ein Braunes Loch gezogen werden, das tief in die Vergangenheit führt. Eine neue (in Wahrheit sehr alte) Homophobie macht sich breit in Deutschland in Gestalt der „Demo für alle“ und der AfD, sie erreicht die Mitte der Gesellschaft und stellt längst Erreichtes wieder zur Disposition.
Deutschlands LGBT-Bewegung steht vor ihrer größten Herausforderung, und längst nicht alle haben es gemerkt. Die „Besorgten Bürger“ dominieren zunehmend – und das ist sehr gut so! – auch das Nollendorfblog. Wir wissen längst: Im Vergleich mit Beverfoerde, Storch und Co. war Norbert Geis ein harmloser alter Kauz. Und einen Clown wie Mirko Welsch hätten wir uns doch vor sieben Jahren nur in einer gutgemachten Satire vorstellen können…
Meine größte Enttäuschung der letzten sieben Jahre ist, dass die schwule Community im Kampf gegen Rechtspopulismus in den eigenen Reihen so kläglich versagt hat. Mit David Berger haben wichtige Protagonisten sogar erst jemanden gezielt aufgebaut, viel zu lange gewähren lassen und verteidigt, der heute auf allen Gratis-Kanälen seine menschenfeindliche Gülle gegen emanzipatorische Politik verspritzt, sich unseren Feinden andient und dem es noch immer gelingt, sich dabei als Opfer zu inszenieren. Hier ist Aufarbeitung gefragt, auch von diesem Blog. ♦
Streng formal gesehen kann man darüber disktutieren, ob Micha Schulze überhaupt ein Blogger ist, da die Website queer.de, die er seit 2004 herausgibt, etwa keine „chronologisch abwärts sortierte Liste von Einträgen“ darstellt und das Portal zum Großteil aus Nachrichtenbeiträgen besteht. Aber er ist selbst auch kommentierender Autor dort, und macht als socher das, was schwule Blogger, was die in dieser 7-Tage-7-Blogger-Reihe versammelten „digitalen Meinungsschreiber“ eben so machen: Meist anhand von aktuellen Ereingnissen Position zu beziehen, eine eigene Sicht formulieren, die dazu beiträgt, den schwulen/queeren Emanzipationsprozess zu erklären, zu verteidigen, voranzubringen. Bei Micha Schulze kommt hinzu, dass er (zusammen mit Chefredakteur Norbert Blech) auch eine der beiden Hauptstimmen von queer.de ist, und somit (da queer.de nicht nur „Marktführer“ ist, sonder quasi auch einziger „Grundversorger“, auf den nahezu alle Teile der Community Bezug nehmen) auch etwas wie ein „Leitartikler“ der Szene fungiert. Schulze ist im Namen des Volkes ein „hochintelligenter und gewandt formulierender Journalist mit vorzüglicher Sprachbeherrschung“ (Urteil des Berliner Landgerichts 64/4 P Js 42/89 Ns 80/92 vom 29. Oktober 1992 im sogenannten Ubbelohde-Prozess). Er war u.a. Redakteur bei der „Siegessäule“, Co-Verleger der „Rosa Zone“ und Herausgeber der eingestellten Monatszeitung „Queer“.
Linktipp für Einsteiger: „Vom Queer-Tower zum virtuellen Büro ohne Nana Mouskuri und Currywurst aus der Mikrowelle“
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Nollendorfblog über queer.de: „Tut es für Euch, tut es für die Community“
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Morgen erscheint der letzte Teil dieser Reihe mit Blogger Steven Milverton.
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Bisher auf „7 Jahre“ (Aktueller Nachtrag):
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Als wir in den Siebzigern mit der schwulen Emanzipation anfingen, ging es darum zu sich selbst zu stehen und für seine Rechte zu kämpfen. Wenn es zunehmend zum Mainstream wird die historische Uhr wieder zurückzudrehen, dann sind jetzt zunehmend die Jungen gefordert, aus
Ihren privaten Freiräumen herauszutreten. Sie sollten laut werden und vermitteln, dass autokratische Systeme mit ihrer rückwärtsgewandten Moral nicht vermeintlich stark sind, sondern
menschenfeindlich.