Die Rede Sigmar Gabriels gestern auf dem SPD Bundesparteitag hat möglicherweise ein für die deutschen Lesben und Schwule heikles Szenario eröffnet. Es ist ein Setting, in dem die Verweigerung unserer Rechte durch die nächste Bundesregierung sogar das kleinere Übel darstellen könnte. Die Tatsache, dass die rechtliche Gleichstellung Homosexueller bei Gabriels ultimativen Forderungen fehlte, mit denen er die Latte für den Eintritt in eine große Koalition weiter nach oben legte, ist dabei nur ein Teil dieser drohenden Misere.
Gewichtiger und bedrohlicher scheinen die Beschwörungen, mit denen er die Delegierten auf den Fall einstimmte, dass sich die Union tatsächlich auf diese Forderungen einläßt, sie also zum Teil des Koalitionsvertrages würden, über den die Mitglieder der SPD dann abzustimmen hätten. Dieser Teil seiner Rede bietet einen Vorgeschmack auf das Szenario, in das Lesben und Schwule schon in wenigen Wochen geraten könnten.
„… Ganz Europa schaut auf diesen Parteitag, und das ist kein Pathos, dass ich übertriebe. Die gucken hier her, ob wir ihnen helfen wollen, oder ob wir uns verdrücken in den nächsten Monaten. Darum geht es, wenn wir in der großen Koalition landen.
(..)
Wenn wir das (einen Koalition mit den zuvor beschriebenen Forderungen, jk) schaffen, Genossinnen und Genossen, dann müsst ihr kämpfen vor Ort. Dann dürft ihr nicht zweifelnd in die Mitgliederversammlungen gehen. Wenn wir dann losmarschieren, dann geht geht es um die Zukunft der Sozialdemokratie der nächsten 20, 30 Jahre. „
Erst zögerlicher, dann minutenlanger Applaus einer sich allmählich formierenden Standing Ovation. Große Gefühle, Geschlossenheit, Schicksalstag. Gabriel hat Tränen in den Augen. Die Presse schreibt: Wenn es eine große Koalition gibt, dann hat diese Rede sie möglich gemacht. Aber was heißt das für uns?
Übernimmt man das Pathos, mit dem Gabriel die Abstimmung über diesen möglichen Koalitionsvertrag zur Abstimmung über die Zukunft Deutschlands, Europas und sogar zu der SPD macht, dann lässt sich das Szenario in wenigen Worten beschreiben.
Lesben und Schwule. Oder Deutschland.
Oder, gekonnt aufbereitet (etwa mit einer guten Prise Alexander Dobrindt, BILD-Zeitung und ein paar bunten Weisheiten à la Udo Walz):
Lesben und Schwule gegen Deutschland !
Noch ist nicht klar, ob es dieses Glatteis geben wird, auf dem wir uns dann behaupten müssten. Aber es schadet wohl nicht, jetzt schon mal die Winterreifen aufzuziehen. Denn: Sind wir wirklich, um im Bild zu bleiben, gerüstet für das, was da auf uns zu kommen kann?
Können wir wirklich gut begründen, dass es eine Regierung, in der erstmals Dinge wie ein Gesetzlicher Mindestlohn, die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren, die Reduktion der Waffenexporte und die Doppelte Staatsangehörigkeit möglich sind, „nur“ deswegen nicht kommen soll, weil wir darauf bestehen, dass uns unsere Rechte nicht durch das Verfassungsgericht, sondern durch den Bundestag beschert werden?
Egal, wie oft wie betonen, dass man diese Dinge nicht gegeneinander ausspielen darf: Ganz genau das könnte passieren.
Könnten wir dann wirklich erklären, dass das, was uns noch zur (ohnehin erwarteten) Gleichstellung fehlt, so wichtig ist, dass wir die mögliche Verbesserung der Lebenssituation von Leiharbeitern, Rentnern, Ausländern, allein erziehenden Müttern usw. dafür aufs Spiel setzen wollen?
Und womöglich, dass unser Land für weitere Wochen kein funktionierendes Parlament, keine starke Regierung hat? Dass es am Ende womöglich Neuwahlen gibt, nur wegen den Befindlichkeiten der Homos?
Klingt populistisch, ist es auch, ich weiß. Hilft aber nichts. Wir sollten uns daran gewöhnen, denn nicht wir wären die, die die Richtung dieser Debatte bestimmen würden.
Dazu kommt, dass die, die sich gegen einen (wie von Gabriel skizzierten) Koalitionsvertrag engagierten, wohl nicht nur harten Attacken „von aussen“ ausgesetzt wären: Wollen wir wirklich die SPD weiter schwächen und mit der Union das politische Lager stärken, dass sich großteils durch die Ablehnung unserer Rechte definiert? Warum sollten die viel kleineren Grünen in einer Regierung mit der Union mehr erreichen als jetzt die SPD? Wollen wir die Wahl eines neuen Bundestages riskieren, in dem die homo-feindlichen Kräfte nach jetzigen Umfragen noch stärker wären?
Und damit kommen wir zur „Lobby-Frage“:
Wer wird uns unterstützen, wenn der Koalitionsvertrag zur Schicksalsfrage des Landes erklärt werden wird? Wie viele (auch uns wohlgesinnter) Politiker, Journalisten und Meinungsmacher werden uns verteidigen, verteidigen können, gegen die leicht zu weckenden Ressentiments und die dahinter stehenden Bilder, die stärker als alle Argumente sind? Das vom narzisstischen, selbstsüchtigen Homosexuellen etwa oder das des hedonistischen Schwulen, in dessen Welt die Probleme anderer sowieso keinen Platz hat?
Wer wird uns verteidigen, darum ging es letzte Woche in meinem Blogbeitrag „Floskeln statt Rechte im Koalitionsvertrag? Jetzt hilft nur noch Druck!“ (der mit zu einer grossen Debatte führte).
Als ich darüber klagte, dass es die oft beschworene „schwule Lobby“ gar nicht gibt, war das (im Gegensatz zu anderen Beiträgen) keine konkrete Kritik am LSVD, sondern nur Beschreibung der Situation aus meiner Sicht, zumal der Verein nicht die Ursache, ist, sondern nur einen kleiner Teil des Problems.
(Nur am Rande: Auch wenn sich Verbände gerne so darstellen: Sie selbst sind keine „Lobby“, sondern bestenfalls eine Organisation, die eine Lobby stärkt und unterstützt. Das bedeutet auch, dass nicht wir uns im LSVD engagieren müssen, um für unsere Interessen zu kämpfen, wie uns manche Funktionäre glauben machen wollen. Es ist umgekehrt: Um uns vertreten zu dürfen, muss der LSVD unsere Interessen so vertreten, dass wir uns durch ihn vertreten fühlen.)
„Lobby“ bedeutet die Summe aller Personen und Institutionen, die für ein bestimmtes Interesse streiten und ihre Bedeutung bemisst sich an der Fähigkeit und Bereitschaft, dieses Interesse durchzusetzen. Die Lobby sind also wir alle, und alle, die uns unterstützen.
Umgekehrt heißt keine Lobby zu haben, dass es diese Fähigkeit und diese Bereitschaft eben nicht gibt. Also genau das, was wir gerade erleben.
Aber wir haben nicht nur keine Lobby, wir wissen nicht einmal, was diese für uns tun sollte, wenn es sie gäbe. Welchen Kampf sie für uns kämpfen sollte. Wenn überhaupt. Und noch schlimmer: Wir haben uns nicht einmal Gedanken darüber gemacht. Vielleicht sollten wir zumindest damit langsam anfangen.
Es geht nicht darum, uns auf die eine Stimme zu einigen, die uns alle vertritt. Wir haben genügend starke Stimmen und unsere Stärke ist nicht das Unisono sondern die Vielfalt. Wenn ich beklage, dass wir keine Lobby haben, die „unsere Macht bündeln kann“ meine ich etwas anderes. Es muss eine ehrliche Analyse unserer derzeitigen „Tools“ geben und die Bereitschaft, diese an den unseren Bedürfnissen auszurichten. Dass es „die“ Bedürfnisse nicht gibt, sondern ganz viele, ist dabei kein Hindernis sondern Teil der Aufgabe, der wir uns stellen müssen: Das Schaffen von Plattformen, die eine breite Meinungs- und Willensbildung ermöglichen und sichtbar machen. Das offene und konstruktive Suchen und Streiten um Gemeinsamkeiten. Aber auch die Ehrlichkeit darüber, wo es diese nicht gibt.
Das alles sind Voraussetzung dafür, dass eine wirkliche Lobby für Lesben und Schwule in Deutschland entstehen kann.
Lesben und Schwule. Oder Deutschland.
Auf diese Zuspitzung dürfen wir uns nicht einlassen. Aber wir müssen auf sie vorbereitet sein.
Die Diskussion, ob, und wenn ja, wie der LSVD in Zukunft noch eine Rolle spielen soll oder kann, muss offensichtlich geführt werden, und ich bin wirklich froh, dass sie da ist.
Doch jetzt gibt es wirklich Wichtigeres!
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Klarstellung: Ich bin mit diesem Blog zusammen mit den Lesbenseiten phenomenelle.de, lesben.org und dem Blog „Samstag ist ein guter Tag“ einer der Verfasser des Aufrufes „100 % Gleichstellung sind nicht verhandelbar -Keine Bundesregierung gegen die Rechte von Lesben und Schwulen!“, der eine breite Unterstützung in der „Szene“ gefunden hat. Dort fordern wir von der SPD „dass sie ohne das Einlösen dieser unmissverständlichen Zusage nicht Teil einer neuen Regierung wird.“
Und jetzt?
Netter Artikel, ABER wie um alles in der Welt kommst du auf die Idee dass die große Koalition wegen der Gleichstellung scheitern könnte? Es ist logisch dass die SPD nicht alles durchsetzen kann und es war von Anfang an klar dass die CDU gegen eine Gleichstellung sein wird. Die SPD lässt doch wegen uns schwulen keine Koalition platzen bzw. Werden die Mitglieder am Ende zustimmen, daher finde ich deinen Artikel etwas befremdlich.
@ Peter: Dann habe ich mich vielleicht nicht deutlich genug ausgedrückt. Ich gehe eben nicht davon aus, dass die Große Koalition daran scheitern wird. Ich beschreibe nur das Szenario, in dem die SPD einen Koalitionsvertrag gegenüber ihren Mitgliedern verteidigen muss, der keine Rechtliche Gleichstellung beinhaltet und dafür von „uns“ kritisiert wird.
Empfehle euch gleich weiter. Toll gemacht. Danke sehr für die Mühe.
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