Irgendwas muss faul sein an dieser Barilla-Geschichte. Irgendwie ist das alles viel zu rund.
Guido Barilla! Alleine der Name des Protagonisten, Guido Barilla, Guido Barilla, ein Name, der dazu reizt, ihn in Gedanken immer wieder aussprechen, um ihn jedes mal noch italienischer klingen zu lassen. Und dieses schmale, edel zerfurchte Schwarzweißfilm-Gesicht, dazu die (Geist und Stil gleichermaßen verheißende) Charles-Schumann/Mathieu Carriere-Frisur. Alleine diese Frisur macht die Tonspur dieses Videos schon überflüssig. Dieses Video! Dieses unglaubliche Video, in dem Barilla leidet, fleht und uns beschwört, seine homofeindlichen Äußerungen, um Himmels willen bitte so zu verstehen, wie wir solche Äußerungen immer verstehen sollen, sobald sie den Weg in breite Öffentlichkeit gefunden haben: Als schreckliches Missverständnis.
Unmöglich wäre es, einen auch nur einigermassen so geeigneten Darsteller zu finden, ginge es darum, die Figur Guido Barilla für einen Spielfilm zu besetzten, die Vorstellung eines tragischen Patriarchen, der darum kämpfen muss, die Ehre und den Besitz der Familie zu retten, die durch ein fürchterliches Missverständnis in Gefahr geraten sind.
Nein, das ist alles viel zu perfekt. Hat irgendjemand mal recherchiert, ob es diesen „Guido Barilla“ überhaupt gibt? Kann es nicht sein, dass wir alle gerade so richtig hinters Licht geführt werden? Dass die ganze Aufregung Teil einer riesengrossen PR-Nummer ist, dass wir in ein paar Monaten erfahren, dass „Borat“–Darsteller Sacha Baron Cohen dahinter steckt, mit einer neuen Paraderolle, die unser alle Vorurteile entlarvt?
Oder wenigstens Martin Sonneborn? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass wir uns ganz bald alle schämen müssen für unsere Naivität. Dafür, dass wir wirklich geglaubt haben, dass uns ein Konzernchef aufgefordert hat, seine Produkte nicht mehr zu kaufen. Und dass wir seine Echtheit auch dann noch nicht angezweifelt haben, als er – allen Gesetzmäßigkeiten der Sripted Reality folgend – beteuerte, wie leid ihm das alles tut. Natürlich nicht deswegen, weil wir ihn beim Wort genommen haben, sondern deswegen, weil er um uns besorgt ist (nicht um unseres Geldes, sondern um unserer Gefühle wegen natürlich).
Dass wir auch dann noch darauf reingefallen sind, als er beteuerte, dass seiner Meinung nach die Meinungsfreiheit auch für Homosexuelle gelten solle.
Nein, diese Rolle, dieses Setting muss sich jemand ausgedacht haben. Wer ausser dem King of Spaghetti soll die heilige Familie denn auch retten, jetzt wo selbst auf den Papst kein Verlass mehr ist? Kein Ort eignet sich besser als Austragungsort für den großen gesellschaftspolitischen Kulturkampf, der in den westlichen Staaten in diesen Tagen ausgefochten wird, als der Tisch, um den sich die heilige italienische Familie um die Pasta herum versammelt. Die „Famiglia“, das längst nicht nur von Italienern geschützte Weltkulturerbe, nicht denkbar ohne den Mythos „Mama“, täglich neu inszeniert in Filmen, Serien , in Restaurants von Peking bis Sidney mit karierten Tischdecken und Wänden mit Fotos, auf denen Sophia Loren oder Gina Lollobrigida irgendwas mit Nudeln machen.
Wer die Kommentare auf den Internetseiten liest, die Barillas Kulturkampf gerne aufgenommen haben und zum Boykott seiner Produkte aufgerufen haben, dem wird bewusst, was hier alles auf dem Spiel steht. Nirgendwo habe ich so was gelesen wie „Ich würde ja Barilla gerne boykottieren, aber dafür schmeckt es mir viel zu gut.“ oder „Schade, dass ich meine Lieblingspasta jetzt nicht mehr essen kann“. Stattdessen schreiben selbst die es mit der Marke Wohlmeinenden, dass Pasta, bei aller Liebe eben doch Pasta ist. Also kein Geheimnis, keine Kunst, sondern Hartweizengrieß vermischt mit Salz und Wasser. Pasta kann jeder, Barilla ist Image pur. Wer Pasta von Barilla kauft, kauft ein Versprechen. Es ist ein Versprechen zum Wohlfühlen. Ohne dieses Versprechen ist Barilla nichts.
Selten war Einkaufen so einfach.
Egal, ob es einen Guido Barilla wirklich gibt, wir müssen ihm dankbar sein. Denn so einfach wird es nie mehr werden. Es gibt keinen Henry Coca Cola, keinen Chin-Hae Samsung, keine Vera Visa. Die Sponsoren von Sotschi, die jetzt entscheiden müssen, wie sie mit dem homofeindlichen Hintergrund der Winterspiele umgehen werden, lassen sich nicht personifizieren. Ihre Produkte, Dienstleistungen und Markenbindungen sind viel komplexer, sie lassen sich nicht ersatzlos austauschen wie eine bunt bedruckte Pappschachtel, die nicht viel mehr vermag, als 500 Gramm Penne zusammen halten.
Aber was hat es nun auf sich mit dieser Barilla Geschichte? Je mehr ich darüber nachdenke, ich kann mir es nur so vorstellen: Was oder wer Guido Barillo auch immer ist, er hat sich für uns geopfert. Er wollte uns Mut zusprechen in unserem Kampf um Gleichstellung. Er wollte uns zeigen, wie stark und mächtig wir sein können, wenn es darauf ankommt. Nur so ist es zu erklären, dass er zum Äußersten gegriffen hat, eine Welt beschworen hat, die für viele Homosexuelle sinnlos erscheint: Eine Familie rund um Sophia Loren, in der wir nicht Sophia Loren sein dürfen.
So muss es sein. Denn es erscheint kaum denkbar, dass Guido Barillo das eigene Markenversprechen nicht verstanden hat. Dass er nicht kapiert hat, dass viele von uns viel mehr Barilla waren, als er es je sein sein kann.
Was für ein genialer Bericht! Vielen Dank, made my day! Geschrieben von meinem „Hero of the day“! :-*