Am 17. Januar, also vor nicht einmal zwei Wochen, wurde die Folge des ZEIT-Podcasts Alles gesagt? aufgezeichnet, in der der Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz zu Gast war.
Die Moderatoren sprachen ihn auch auf seine umstrittenen Äußerungen der vergangenen Jahre an, die „wo Sie dann im Nachhinein –“. An der Stelle unterbricht Merz energisch:
„Nein, es gibt nur eine, die ich bereut und zurückgenommen habe. Alles andere nicht.“
Die Moderatoren haken nach: „Die kleinen Paschas? Oder das mit dem Zahnarztbesuch?“ Merz verneint: „Nein, nein, nein, noch etwas anderes.“
Nur seine Aussage über ukrainische Flüchtlinge, die „hin- und herreisen“, sei eine falsche Einschätzung gewesen. „Das war falsch, den Fehler habe ich gemacht, dafür habe ich mich entschuldigt.“
Alles andere – das wird ihm hier besonders wichtig – nicht.
Seine Erklärung dafür:
„Wenn ich etwas zuspitze in den Formulierungen, dann meine ich das so. Dann ist das für mich Teil einer legitimen politischen Auseinandersetzung.“
Bemerkenswert ist, dass eine der heftigsten „Formulierungen“ von Friedrich Merz in diesem Bundestagswahlkampf gar keine Rolle spielt – auch nicht in dem über zweistündigen Podcast, in dem die ZEIT-Redakteure ansonsten jede Auffälligkeit des CDU-Politikers akribisch unter die Lupe nehmen.
Interessant auch, dass in der aktuellen Debatte über die Eignung des Unions-Kandidaten für das Kanzleramt ausgerechnet die Aussage unter den Tisch fällt, die er selbst im September 2020 zum Thema einer Kanzler-Eignung getroffen hatte:
Zur Erinnerung: Damals wurde Merz gefragt, ob er sich einen homosexuellen Bundeskanzler vorstellen könne. Seine Antwort:
„Solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft – an der Stelle ist für mich allerdings eine absolute Grenze erreicht –, ist das kein Thema für die öffentliche Diskussion.“
(Hier mein damaliger Blog-Beitrag zum Thema.) Interessant, dass Friedrich Merz sich auch heute nicht von dieser „Formulierung“ distanzieren möchte. Dass er darauf beharrt, sie sei – wie „alles andere“ – Teil einer legitimen politischen Auseinandersetzung.
Vor allem aber, dass er diese Legitimität damit begründet, dass es sich bei seinen umstrittenen Äußerungen lediglich um Zuspitzungen handle.
Eine Zuspitzung ist eine Pointierung, vielleicht auch eine Übertreibung – aber sie behauptet immer einen wahren Kern.
Doch welcher wahre Kern steckt hinter der „zugespitzten“ Aussage über einen homosexuellen Bundeskanzler, außer der Andeutung, dass es ein grundsätzliches Problem von Homosexuellen im Umgang mit Kindern gebe, auf das man aufmerksam machen müsse?
„Nein, es gibt nur einen, den ich auch bereut habe, den ich auch zurückgenommen habe. Alles andere nicht.“
Das bedeutet also auch: Der sehr wahrscheinliche nächste Bundeskanzler will sich bis heute nicht von einer Aussage distanzieren, die alle Homosexuellen in die Nähe eines Pädophilie-Verdachts rückt.
Dass Friedrich Merz so denkt, war immer schon problematisch.
Seit ein paar Tagen wissen wir aber, wie gefährlich sein innerer Kompass wirklich ist.
Doch springen wir noch einmal zwei Wochen zurück, zu seinem Alles gesagt?-Interview. Dort sagte er:
„Ich weiß nur, dass ich jetzt in der Rolle als Kanzlerkandidat bin und möglicherweise dann in einigen Wochen auch dieses Amt innehabe, dass ich dann auch eine gewisse Ruhe und Beständigkeit und auch Überlegtheit zeigen muss, die ich immer gehabt habe. Aber die wollen die Menschen von einem, der dieses Amt anstrebt und dann möglicherweise auch hat, zurecht erwarten. Und dieser Erwartung kann ich gerecht werden, ohne dass ich mich verstellen muss.“
Überlegtheit, Ruhe, Beständigkeit – das forderte Friedrich Merz von sich selbst für die letzte Phase des Wahlkampfs. Doch wie spektakulär er an diesen eigenen Ansprüchen scheitert, sagt nicht nur viel über seinen Charakter aus, sondern vor allem über die Gründe dafür.
Dass er nach dem erschütternden Attentat von Aschaffenburg lautstark eine Neuausrichtung der Migrationspolitik fordert, ist nachvollziehbar. Doch dass plötzlich jede Überlegtheit, jede Ruhe, jede Beständigkeit über Bord geworfen wird, ist alarmierend.
„Was in der Sache richtig ist, wird nicht falsch, wenn die Falschen zustimmen.“
markiert einen Paradigmenwechsel.
Zum einen in Bezug auf die „Falschen“ – den Umgang mit der AfD, ihre Normalisierung und Verharmlosung. In den vergangenen Tagen wurde vielfach beschrieben, wie brüchig die sogenannte „Brandmauer“ zur AfD geworden ist, durch das kalkulierte gemeinsame Abstimmungsverhalten.
Doch der Paradigmenwechsel reicht noch weiter. Seine ganze Rhetorik der letzten Tage basiert auf der Logik einer akuten Gefahr: Wir müssen sofort handeln. Ein Notstand, so dringlich, dass er sogar die von ihm selbst formulierte Selbstverpflichtung – niemals die Stimmen der AfD als Mehrheitsbeschaffer zu nutzen – über Bord wirft.
Er ist bereit, die demokratische Kultur des Landes aufs Spiel zu setzen – wegen eines Notstands, an dem die von ihm eingebrachten Anträge rein gar nichts geändert hätten. Die Legitimität dieses Notstands besteht also nur darin, genau das zu tun, was er seinen Gegnern ständig vorwirft: Symbolpolitik. Nur eben in einer weitaus monströseren Dimension. Denn es geht Merz – wie immer – um Stimmungsmache.
„Was in der Sache richtig ist“ bedeutet für ihn nicht Lösung, sondern maximale Zuspitzung.
Und „es wird nicht falsch, wenn die Falschen zustimmen“ – das ist de facto eine Drohung.
Für einen Politiker, der selbst die vermeintliche Bedrohung von Kindern durch Homosexuelle als „Teil einer legitimen politischen Auseinandersetzung“ betrachtet, lassen sich in einer erregten Gesellschaft nicht nur viele Notstandsszenarien auf die Spitze treiben. Mit seinem Paradigmenwechsel rechtfertigt er nun auch, dazu, mit den „Falschen“ schnelle Bundestagsbeschlüsse durchzusetzen.
Nicht nur Homosexuelle, sondern alle Minderheiten sollten Friedrich Merz sehr ernst nehmen.
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Merz, Laschet, Klöckner und die Verlässlichkeit der ganz normalen Homophobie in der CDU