Nachdem das Bundesverwaltungsgericht einen Verweis des Tuppendienstgerichtes der Bundeswehr gegen die Bataillonskommandeurin Anastasia Biefang aufgrund einer Sex-Suche auf Tinder gebilligt hatte, gab es nicht nur in der Community, sondern auch in vielen großen nicht-queeren Medien notwendigen und deutlichen Widerspruch.
Auch der SPIEGEL hatte online unter der Überschrift „Sex ist Privatsache“ einen kritischen Kommentar gegen den Beschluss veröffentlicht, in dem es u.a. heißt:
Die Soldatin hat außerhalb ihrer Dienstzeit ihre private Leidenschaft ausgelebt. Oder vielmehr: kundgetan, dass sie sie ausleben will. Soldaten und Soldatinnen sind Bürgerinnen und Bürger in Uniformen. In jeder Uniform steckt: ein Mensch.
Doch in einem neuen Beitrag in Onlineausgabe des SPIEGEL („Sie ist nicht irgendeine Soldatin“) sieht die Sache nun ganz anders aus. In einem von Florian Gontek geführten langen Interview geht es ausschließlich darum, mithilfe eines Experten zu erklären, warum die Kritik am Urteil unangemessen sei, der angebliche „Aufschrei“ zu groß. Hierfür hat mein einen Experten gefunden (Michael Giesen, ehemaliger Feldjäger und laut „SPIEGEL“ Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Wehrrecht und Wehrstrafrecht), dessen Expertise aus zwei Thesen besteht.
These eins: Biefang ist nicht irgendwer, durch ihren hohen Rang muss sie genau aufpassen, wie sie sich auch in privaten Umfeldern äußert:
Giesen sagt:
Was Soldatinnen und Soldaten dürfen, steht im Soldatengesetz . Schaut man in das Gesetz rein, steht dort viel von »Vertrauen« und »Gemeinschaft«. Wir reden hier nicht von Kommunalbeamten, sondern von Menschen, die dafür ausgebildet sind, andere Menschen zu töten. Frau Biefang hat Personalverantwortung für 1000 Menschen.
Und direkt danach folgt These zwei: Bei sexuellen Vorlieben hört der Spaß auf! Wörtlich sagt Giesen:
Wenn jemand seine sexuellen Vorlieben so offen preisgibt, dann geht es hier auch um einen möglichen Vertrauensverlust innerhalb der Gruppe.
Ob das juristisch stimmt, kann ich nicht beurteilen. Zumindest verstehe ich nicht, warum das offene Preisgeben von sexuellen Vorlieben zu Vertrauensverlust führen sollte. Aber das ist in diesem Zusammenhang auch egal. Denn: Anastasia Biefang hat in ihrem Tinder-Text überhaupt keine sexuellen Vorlieben „preisgegeben.“
Giese behauptet im Interview zwar:
Wenn nun jemand als Kommandeurin auf einer Datingplattform schreibt: Ich bin sexuell für alles offen, dann können Vorbehalte gegenüber dieser Kommandeurin entstehen und der Zusammenhalt der Gruppe gefährdet sein.
Doch das stimmt nicht. Biefang hatte nicht geschrieben, dass sie sei „sexuell für alles offen“.
Sondern:
„All genders welcome.“
Gender ist nicht Sex. Auch nicht ein bisschen. Gender ist was ganz anderes als das deutsche Wort „Sex“. Ansagen zu Sex sagen, was man machen will. Ansagen zu Gender, mit wem. Bei Biefangs Angabe geht es also um ihre sexuelle Orientierung und das ist eben nicht, wie der SPIEGEL-Experte suggeriert, eine besonders krasse Sex-Aussage, sondern einfach eine Notwendigkeit: Wer Sex sucht, muss ja die Möglichkeit haben, deutlich zu machen, wer sich durch die Suche angesprochen fühlen soll. Anastasia Biefang hat in ihrer Sex-Suche mit ihrer „All Genders“-Info angegeben, dass sie polysexuell ist. Es ist offensichtlich (zumindest ein Teil) ihrer sexuellen Identität. Sexuelle Identität ist also in einem SPIEGEL-Interview von 2022 wieder Schmuddelkram?
Dass ein Experte Blödsinn redet und das eine Zitat, auf dem seine ganze Expertise beruht, böswillig oder fahrlässig verfälscht, ist das eine. Dass der SPIEGEL-Redakteur hier nicht widerspricht und die notwendigen Fakten klarstellt, ist das andere. Richtig dumm gelaufen, aber kann passieren. Dass der SPIEGEL das dann aber trotzdem groß als Interview veröffentlicht, ist ein Problem. Herausreden damit, dass man ja nur das Gerede eines Rechtsanwaltes wiedergegeben hat, kann sich das Magazin jedenfalls nicht. Nicht nur der Interviewte, sondern auch das Medium, in dem ein Interview stattfindet, ist verantwortlich dafür, dass keine verfälschte Aussagen in Umlauf gebracht werden. (Verlage und Redakteure haften sogar „durch die Verbreitung von fremden Äußerungen für diese grundsätzlich genauso wie die zitierten Personen selbst“ schreibt Sebastian Golla.) Es ist also nicht nur der Experte, sondern auch der SPIEGEL selbst, der Biefang hier Unrecht tut.
Nicht Anastasia Biefang hat hier ihre sexuellen Fantasien offenbart, sondern der SPIEGEL und sein Experte ihre sexuellen Fantasien über Anastasia Biefang. Dass sich der SPIEGEL in letzter Zeit auffällig unangemessen über trans Menschen geäußert hatte, mag ein Zufall sein. Die Frage bleibt, warum der SPIEGEL dachte, mit diesem Interview die „Empörung“ zugunsten Biefangs zurechtrücken zu müssen.
Der SPIEGEL-Experte sagt, Biefang sei nicht „irgendeine Soldatin“ und daraus ergäben sich „auch besondere Pflichten“. Der SPIEGEL ist nicht irgendein Medium. Er sollte sich bei Biefang entschuldigen.
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Anastasia Biefang bei mir im QUEERKRAM-Podcast.
Hier im Blog: SPIEGEL-Kulturchef schürt Angst vor trans: Ahnungslos durch die Nacht?
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