Für dieses Interview stelle ich meinen Blog der Literaturzeitschrift GLITTER zur Verfügung, die sich mit den ungarischen Macher*innen des Buches „Märchenland für alle“ solidarisiert.
Gastbeitrag
Das ungarische Kinderbuch „Märchenland für alle“ erzählt Geschichten, die die ganze Breite der Gesellschaft widerspiegeln: ein lesbisches Aschenputtel, ein schwarzes Schneewittchen und ein schwuler Prinz. Der ungarischen-Regierung war das ein Dorn im Auge. Aller Einschüchterung zum Trotz avancierte das Märchenbuch in den letzten Wochen zum nationalen Bestseller und wurde zu einem Symbol im Kampf gegen Diskriminierung.
Ein Interview der Literaturwissenschaftlerin Kristina Kocyba mit Boldizsár Nagy, dem Herausgeber des Buches Märchenland für alle:
Geschreddert, gebrandmarkt und gefeiert: Warum in Ungarn ein Märchenbuch zum Symbol gegen Diskriminierung und für die Rechte von LGBTQ+ avanciert.
Kristina: Glückwunsch, Boldizsár, das Buch Meseország mindenkié (Ein Märchenland für alle) steht derzeit auf Platz 1 der ungarischen Bestsellerlisten. Das ist ziemlich ungewöhnlich für ein Märchenbuch.
Boldizsár: Dankeschön. Es ist wirklich unglaublich: Seit seiner Veröffentlichung im September 2020 gehört unser Buch zu den meist verkauften Büchern im Land. Labrisz Lesbian Association – der Verband, der das Buch herausgegeben hat – rechnete anfänglich mit lediglich 1.500 Exemplaren. Mittlerweile liegt bereits die dritte Auflage vor. Bislang wurden 30.000 Exemplare verkauft – eine stattliche Zahl!
Kristina: Was steckt hinter dem Erfolg Eures Buches?
Boldizsár: Unsere Idee war es, eine Anthologie zu schaffen, die neue, moderne Märchen über marginalisierte Gruppen enthalten sollte: Die Heldinnen und Helden dieser neuen Märchen sind LGBTQ+, Rom und Romni, Juden und Jüdinnen, Menschen mit Behinderung; sie sind adoptiert oder kommen aus prekären familiären Verhältnissen. Wir wollten endlich Geschichten, in denen sich alle Kinder wiederfinden können. Damit wollten wir zeigen, dass es für jede*n Hoffnung gibt – auch wenn die Welt da draußen manchmal etwas anders läuft. Wir dachten nicht, dass Ungarn für ein solches Buch bereit sei, aber vielleicht zumindest ein kleiner Teil der Gesellschaft…
Kristina: …und nun war dieses Buch teilweise sogar ausverkauft. Das Interesse ist deutlich größer als erwartet.
Boldizsár: LGBTQ+ ist ein in Ungarn stark tabuisiertes Thema. Gleichzeitig ist es sehr politisiert, weil der öffentliche politische Diskurs die Diskriminierung von Minderheiten fördert. Er ist geprägt von Homophobie, Antiziganismus und Fremdenhass. In einem solchen Rahmen wird es für Eltern und Lehrer*innen sehr, sehr schwierig, gegenläufige Fragen zuzulassen und betroffene Kinder vor Mobbing oder Hatespeech zu schützen. Labrisz Lesbian Association ist eine NGO, die verschiedene Programme entwickelt hat, um für diese Themen zu sensibilisieren, darunter eine Unterrichtsreihe über LGBTQ+. An Schulen, wo die Leitung offen für dieses Thema war, konnte diese auch durchgeführt werden. Die Pandemie hat solche Aktivitäten leider sehr erschwert. Daher kam Labrisz auf die Idee, ein Kinderbuch für etwa 8-12 jährige Leser*innen zu entwickeln, das diese Themen aufgreifen würde. Da ich als Kritiker von Kinderbüchern mich häufig mit diesen Themen beschäftige, fragten sie mich, ob ich der Herausgeber werden wollte. Am Ende mussten wir von rund 100 eingesandten Märchen 17 auswählen, darunter Geschichten von bekannten wie auch noch völlig unbekannten Autor*innen. Mit Lilla Bölecz haben wir außerdem eine der besten Illustratorinnen des Landes gewinnen können. Ihre wundervollen Zeichnungen verleihen den Märchen eine zusätzliche, symbolische Dimension.
Kristina: Warum habt Ihr Euch bei diesem Buchprojekt für die Gattung Märchen entschieden?
Boldiszár: Zum einen wollten wir damit den Mythos dekonstruieren, Märchen seien unabänderliche Weisheiten, die unabhängig von Zeit und Raum in unsere Gegenwart wirken. Ein Glaube, der bisweilen soagr in der Märchenforschung zu finden ist. Aber Märchen sind immer auf der Reise, verändern ihre Form und Inhalte, absorbieren und transformieren gesellschaftliche Entwicklungen…Die Gebrüder Grimm legten von ihren Haus- und Kindermärchen 17 Fassungen vor. Und dann spielt es natürlich eine Rolle, wer die Geschichten erzählt, wer sie liest, wer sie verkauft. Zum anderen knüpfen wir mit Meseorszag mindenkié an eine Märchentradition an, die schon immer subversive Narrative hervorgebracht und dabei patriarchale und binäre Strukturen hinterfragt hat, also beispielsweise Mann vs. Frau, weiß vs. schwarz, zivilsiert vs. unzivilisert, jung vs. alt…
Kristina: Könntest Du uns einige Eurer Geschichten und neuen Protagonist*innen vorstellen?
Boldizsár: Bei unseren Märchen handelt es sich um Adaptionen von Klassikern wie Aschenputtel, Däumelinchen, Dornröschen, Schneewittchen, Hänsel und Gretel, Das hässliche Entlein oder Der Prinz und der Bettler. Es gibt auch ein irisches Volksmärchen, eine griechische Sage über Caeneus, die sich mit Hilfe der Götter in einen Mann verwandelt, und ein Märchen über einen Eiskönig mit zwei lesbischen Heldinnen. Dann gibt es noch einen Prinzen, der nichts mit Männerkram anfangen kann und eine Prinzessin, die nicht heiraten will, weil sie sich für so viel Anderes interessiert; sie ist ein lustiger und starker Charakter. In der Adaption von Aschenputtel verliebt sich ein Roma Junge auf einer Party in einen anderen Jungen; auch Däumelinchen ist eine Romni und Schneewittchen ist in unserer Version ‚Braunblättchen‘ und hat keine schneeweiße Haut. Eine der beliebtesten Geschichten handelt von einem Hasen mit drei Ohren, den die anderen Tiere aus ihrem Wald vertreiben wollen…
Kristina: Gab es im Segment Kinderbuch Vorläufer zu Eurem Projekt?
Boldizsár: In einer modernen ungarischen Anthologie gab es ebenfalls eine Aschenputtel-Adaption mit schwulem Helden – diese wurde in den späteren Ausgaben allerdings elminiert. Ansonsten gibt es Bücher etwa über Scheidung oder Alkoholsucht, aber stets in einem sehr melancholischen Ton. Manche Themen fehlen ganz. Obwohl die Roma in Ungarn 8-10% der Bevölkerung ausmachen, suchen wir im Kinderbuch bislang vergeblich nach Roma-Held*innen. Das Gleiche gilt für Menschen mit Behinderung. In Ungarn lebt jeder siebte Mensch unterhalb der Armutsgrenze; viele Eltern sind alkohol- oder drogenabhängig und ihre Kinder müssen in staatliche Fürsorge. Diese Kinder brauchen Geschichten, die sie stark machen. Held*innen, mit denen sie sich identifizieren können. Wir sind faktisch eine viel buntere und heterogene Gesellschaft, als es uns die Politik weismachen will. Glücklicherweise widmen sich nun mehr und mehr Verlage dieser Tatsache.
Kristina: Wie sind die Reaktionen der Leserinnen und Leser auf Euer Buch?
Boldizsár: Ich habe sehr viel positives Feedback bekommen, besonders von Eltern, Lehrpersonal, Erziehungswissenschaftler*innen, aber auch von den Kindern. Eine Schulklasse berichtete mir, wer ihre Lieblingsheld*innen seien und welche Figuren sie sich für die Zukunft vorstellen. Viele LGBTQ+ Erwachsene schrieben mir, dass sie sich ein solches Buch als Kind gewünscht hätten. Und sehr viele Eltern begrüßen das Aufweichen traditioneller Gender-Rollen, also etwa das Auftreten eines starken Mädchens und eines sensiblen, einfühlsamen Jungen. Egal aus welcher Richtung Interesse und Lob kommen, es ist wichtig, dass wir uns untereinander solidarisieren und gegenseitig helfen. Denn wir alle wollen in einer offeneren, empathischeren und freundlicheren Welt leben.
Kristina: Die Reaktionen der Politik auf das Buch waren, gelinde ausgedrückt, weit weniger freundlich…
Boldizsár: Nur wenige Tage nachdem unser Buch erschienen war, wurde es auf einer Pressekonferenz der rechten Partei Mi Hazánk geschreddert; danach wurde es von der Regierungspartei Fidesz attackiert. Von einem Tag auf den anderen stand des Buch plötzlich im medialen Rampenlicht: Einige Kindergärten haben das Buch verboten; eine Petition, das Buch aus den Buchläden zu nehmen, wurde initiiert; es gab Einschüchterungsversuche gegenüber Buchhändler*innen und Plakate an Buchläden, die davor ‚warnten‘, dass sie ‚homosexuelle Propaganda‘ verkaufen würden. Premierminister Orbán äußerte in einer Rede, die Ungarn wären gegenüber LGBTQ+ tolerant, aber es gäbe eine rote Linie; die Kinder müssten in Ruhe gelassen werden. Ungefähr zum selben Zeitpunkt wurde in Ungarn ein neues Gesetz erlassen, welches es LGBTQ+ und Alleinerziehenden praktisch unmöglich macht, Kinder zu adoptieren. Es schließt an zwei weitere, frühere Beschlüsse an, wonach Menschen ihr Geschlecht nicht mehr verändern dürfen und nur ein Mann und eine Frau eine Familie konstituierten. Ganz klar: LGBTQ+ ist das neue Feindbild Orbáns. Aber: Es tut sich was in der ungarischen Gesellschaft. Denn im öffentlichen Diskurs ist eine Gegenbewegung entstanden. Viele Institutionen, Verlage, Oppositionspolitiker*innen und Persönlichkeiten haben ihre Stimmen erhoben und in den sozialen Medien Veranstaltungen organisiert; Meseország mindenkié avanciert zum Symbol für den Protest gegen die diskriminierende Haltung der Regierung. Endlich ist LGBTQ+ ein offenes Thema und wir können über Gender-Rollen und sexuelle Orientierung sprechen. Ja, es wird auch darüber diskutiert, wie sich in unserem Land ein Diskurs überhaupt formieren kann: Wer darf sprechen? Wann? Und wo? Viele unserer Befürworter*innen waren sicher schon vorher offen, aber erst jetzt ist es möglich, sich auch offen zu äußern! Also kurz gesagt: Die politischen Attacken haben unserem Buch nicht geschadet, im Gegenteil.
Kristina: Vor kurzem wurde von der Regierung angeordnet, das Buch mit einem Warnhinweis zu versehen…
Boldizsár: Ja, der Hinweis besagt, dass in dem Buch Verhalten zutage tritt, das nicht mit traditionellen Geschlechterrollen übereinstimme. Angeblich müssten die Käufer*innnen davor geschützt werden. Eine solche Maßnahme ist diskriminierend und verfassungswidrig; Labrisz wird den Beschluss anfechten. Es muss aber erwähnt werden, dass zum Zeitpunkt dieses Beschlusses das Buch erneut auf die Nummer 1 der Bestseller-Listen rückte. In diesem Augenblick fühlte ich, wie viele Menschen aus dem ganzen Land uns unterstützen. Und anstatt der Scham, die mich ein Leben lang begleitet hat, fühle ich endlich Stolz.
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Boldizsár M. Nagy arbeitet als Literaturkritiker und Übersetzer. Als Autor veröffentlicht er Artikel zu den Themen Gender, Popkultur und LGBTQ+.
Dr. Kristina Kocyba arbeitet als Gastwissenschaftlerin am Germanistischen Institut der ELTE in Budapest. Als Kulturwissenschaftlerin forscht und publiziert sie u.a. zu gendersensiblem Literaturunterricht und zu literarischem Empowerment.
Glitter – Die Gala der Literaturzeitschriften ist die erste und einzige queere Literaturzeitschrift im deutschsprachigen Raum. Letzten Dezember erschien die vierte Ausgaben mit 36 queeren Kurzgeschichten, Lyrik-Beiträgen, Essays und Romanauszügen.