Queere Weihnachten: Wer unsere Familie ist, bestimmen wir selbst!

Für die Weihnachtstage gilt: In Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Infektionsgeschehen können die Länder vom 24. Dezember bis zum 26. Dezember 2020 als Ausnahme von den sonst geltenden Kontaktbeschränkungen Treffen mit 4 über den eigenen Hausstand hinausgehenden Personen aus dem engsten Familienkreis zuzüglich Kindern im Alter bis 14 Jahre zulassen, auch wenn dies mehr als zwei Hausstände oder 5 Personen über 14 Jahre bedeutet.

Beschluss der Bundeskanzlerin und der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 13. Dezember 2020

Für viele Menschen ist Weihnachten eine Tortur. Weil sie Angst vor der Einsamkeit haben. Weil sie mit ihrer kaputten Familie konfrontiert werden. Weil alte Konflikte alle Jahre wieder aufbrechen oder ihnen schmerzlich bewusst wird, dass sie notwendige Konflikte nie gewagt haben.

Bei queeren Menschen gibt es noch eine andere Komponente: Ja, es gibt Coming-outs, die der oder die Betreffende samt Familie gut überstanden hat. Aber da gibt es eben auch noch all die anderen: Coming-outs die fatalerweise nicht stattgefunden haben. Coming-outs, von denen nur ein Teil der Familie wissen darf. Coming-outs, die zum Streit oder Buch mit der Familie oder einzelnen Familienmitgliedern geführt haben. Coming-outs, nach denen sich zwar alle Beteiligten versichern, dass sich nichts geändert hat, aber jeder weiß, das das gelogen ist.

Es gibt viele Faktoren, warum queere Menschen in der Pandemie besonders leiden: Subkultur, Beratungs- und Hilfsangebote, Therapien sind weggebrochen, sind oder waren nur eingeschränkt oder mit Ängsten vor der eigenen Ansteckungsrisiko erreichbar. Das ist sowohl für jüngere LGBTI besonders schlimm, die gerade in ihrer Coming-out-Zeit auf die Möglichkeiten der Community angewiesen sind, da ihnen oft weder das schulische, noch das familiäre Umfeld Unterstützung und Ausgleich bieten. Das gilt aber auch für ältere, die ganz oft in keinen belastbaren Beziehungsstrukturen leben, auch weil die Gesellschaft ihnen ein Leben ohne Sich-Verstecken und Scham sehr schwer gemacht hat.

„We are family“ ist nicht ohne Grund einer der Kernsätze queerer Kultur. Er besagt nicht nur, dass uns unser Anderssein irgendwie verbindet, dass wir uns eine eigene Subkultur, eigene Rituale und Codes entwickelt haben. Es bedeutet auch ganz konkret, dass wir selbst bestimmen, wer unsere Familie ist. Und das bedeutet eben, dass die sogenannte „Kernfamilie“ vieler queeren Menschen vor allem aus Menschen besteht, mit denen sie nicht verwandt sind. Menschen, auf die sie sich wirklich verlassen können. Menschen, bei denen sie sich wirklich geborgen fühlen. Menschen, auf die sie sich wirklich freuen.

Für queere Menschen ist es daher eine Zumutung, dass Kanzlerin und Ministerpräsident*innen als die vier Kontaktpersonen über Weihnachten nur Personen erlauben, die sich aus dem „engsten Familienkreis“ rekrutieren.

Welchen Sinn macht das? Hat das wirklich epidemiologische Gründe? Oder steckt dahinter ein bewusstes oder unbewusstes Moralgebot?

Als bereits Ende November Wochen Coronaregelungen für Silvester und Weihnachten bekannt gegeben wurden, begründete der bayerische Ministerpräsident seine restriktive Haltung so:

„Es geht nicht darum, an Silvester große Partys zu feiern, sondern an Weihnachten den Wert der Familie zu entdecken.“

Und Familie definierte er so:

„Familie ist eine Familie, die alleinerziehend ist, eine Patchworkfamilie, Familie sind zwei Menschen, die zusammenleben, Familie sind diejenigen, die zusammenkommen – Eltern, Großeltern, Kinder.“

Vielleicht korrigieren sich Kanzlerin und Ministerpräsident*innen ja, oder sie konkretisieren den hinter „engsten Familienkreis“ stehenden Familienbegriff als einen, der auch der Lebenswirklichkeit vieler queeren Menschen gerecht wird. Oder sie erklären uns, warum das Zusammentreffen mit Herkunftsfamilienmitglieder anderer Haushalte epidemiologisch gesehen problematischer ist als das Zusammentreffen mit Wahlverwandtschaft aus anderen Haushalten.

Tun sie das nicht, bedeutet das tatsächlich einen Kulturkampf: Der Staat kehrt zurück zu seiner offenen Queerfeindlichkeit, die er bis in die jüngste Vergangenheit mit dem „Schutz der Familie“ begründet hat.

Der Aktivist und Autor Dirk Ludigs schreibt heute auf Facebook:

Die erleichterten Kontaktbeschränkungen zu Weihnachten abhängig zu machen von Blutlinien ist so ekelerregend völkisch und ein solcher zivilisatorischer Rückfall, dass man als queerer Aktivist nur zum zivlien Ungehorsam aufrufen kann!
Haltet euch an die Zahl der Kontakte, aber wer für uns Familie ist, bestimmt keine Regierung dieser Welt!

Noch ist offen, ob das alles nur eine Art redaktionelles Versehen war, wobei auch das Rückschlüsse darauf zulassen würden, wie – im besten Fall – egal den Regierenden queere Realitäten sind, wenn es wirklich einmal darauf ankommen würde, diese mal im Blick zu halten.

Die nächsten Tage werden zeigen, ob und wie sehr wir wirklich kämpfen müssen. Nicht um Weihnachten. Sondern tatsächlich um Werte: So traurig das auch ist: Es geht dann darum, was wir in der Gesellschaft wert sind.

—–

Nachtrag: Der (offen schwule) Berliner Kultursenator und Bürgermeister Klaus Lederer (Die Linke) schreibt auf Facebook bezogen auf das Land Berlin:

#Berlin setzt die MPK-Beschlüsse um & ich bin froh darüber. Grundrechtsbetätigung wird smart eingeschränkt, Buchhandel bleibt („geistige Tankstelle“) offen, queerer & Singlerealität wird Rechnung getragen. Kritik bleibt bei fehlenden Hilfen für Soloselbständige & Einkommensarme.

Auf dem Facebook-Profil von Dirk Ludigs ergänzt er auf dessen Nachfrage:

Das bedeutet, dass sich in Berlin vom 24.-26. auch bis zu 5 Menschen aus 5 Haushalten treffen können (aber nicht müssen!), die nicht im zivilrechtlichen Sinn enge Verwandte sind.

Auch die Berliner Senatorin und Bürgermeisterin Ramona Pop (Bündnis 90/Die Grünen) stellte für Berlin klar, dass  es in der

„Single-, Alleinerziehenden- ich will auch sagen queeren Hauptstadt wie Berlin, wo das Thema Wahlfamilie eben auch anders gelebt wird als nur die reine, sozusagen abstammungs-biologischen Familie …“

ermöglicht werde, auch in der Wahlfamilie mit fünf Personen aus fünf Haushalten Weihnachten zu verbringen. ♦

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