Es wird nicht einfach so vorbei sein. So schnell und rigoros der Shutdown war, so langsam und uneindeutig wird die Öffnung sein. Der Schritt von Freiheit zur Unfreiheit ist ein anderer als der Weg zurück. Und wenn wir jetzt nicht aufpassen, werden wir nicht da wieder hinkommen, wo wir einmal waren.
In diesen Tagen gibt es viele, die die Krise als Chance ausrufen. Doch so sehr jede und jeder einzelne dem Ganzen für sich selber positive Seiten abringen kann, so sehr ist es jedoch verwerflich, die Situation als solche zu verklären. Wir sind massiven Einschränkungen unserer Freiheitsrechte ausgesetzt. So notwendig das auch sein mag: Da ist nichts, aber auch gar nichts Gutes daran, so gut mancher auch da individuell mit klarkommen mag, und so gut auch manche gesellschaftlichen Nebeneffekte nun sein mögen. Wir können unsere Freiheit nur verteidigen, wenn wir sie als Wert an sich begreifen und nicht als Luxus. Freiheit ist die Basis für alles, auch wenn es keine grenzenlose Freiheit gibt, auch wenn wir unsere Freiheit immer und überall mit unterschiedlichen Grundrechten und vor allem der Freiheit der anderen in Einklang bringen müssen. Und so wichtig Freiheit für alles ist, so falsch ist Unfreiheit in jeder Sekunde, auch wenn es eine gute Sekunde ist.
Das sollte nicht nur deswegen klar sein, weil in diesen Zeiten deutlich wird, wie unterschiedlich privilegiert wir sind und wie sehr die, die es weniger sind auch größere Lasten zu tragen haben. Natürlich kann man Fotos posten, wie prima man es sich auf der eigenen Dachterrasse eingerichtet hat. Aber man darf auch darüber nachdenken, wie das auf diejenigen wirkt, die gerade mit mehreren Leuten in balkonlosen Zweizimmerwohnungen die Zeit verbringen müssen. Und ja es stimmt: Systemimmanent ist nicht nur das, was uns überleben lässt. Auch die Kultur gehört dazu und deswegen ist es wichtig, dass wir sie gerade über die Corona-Zeit retten, dass Künstler*innen und Künstler wie auch die Spielorte gerettet werden.
Andererseits müssen wir aufpassen, dass wir hier nicht nur unsere eigenen Ansprüche verteidigen. So wichtig, ja fast im wörtlichen Sinne „überlebenswichtig“ es mir und vielen anderen ist, an Kultur teilnehmen zu können, so sehr müssen wir es auch akzeptieren, dass es für andere eben sehr viel weniger wichtig ist. Und dass auch die Ansprüche, die nicht unseren eigenen sind, Anspruch haben, verteidigt zu werden. Von allen.
Ich zum Beispiel bin nicht religiös und hochgradig religionskritisch. Trotzdem ist jetzt auch meine Empathie für diejenigen gefordert, zu deren Leben die religiöse Gemeinschaft gehört, und die deshalb stark unter den Kontaktverboten leiden. Gleiches gilt für Sex. Für manche ist das Eingeschlossensein in sexueller Hinsicht aus den unterschiedlichsten Gründen kein großes Problem. Andere leiden, aber können es ganz gut aushalten. Für wieder andere ist nicht nur der Verzicht auf den räumlich nicht anwesenden (Sexual-)Partner kaum auszuhalten, sondern auch der Verzicht auf polyamore Beziehungsmenschen, anonyme oder „flüchtige“ Sexpartner oder etwa Gruppensexpartys. Jede und jeder von uns hat eigene, unterschiedliche Bedürfnisse, wir haben lange dafür gekämpft, dass diese alle gleichwertig zu betrachten sind und müssen uns in dieser Situation gegenseitig vergewissern, dass wir das auch wirklich ernst meinen. Dies bedeutet nicht, dass wir die Regeln zur Abwehr des drohenden Kollapses des Gesundheitssystems schleifen lassen sollen. Aber wir sollten auch nicht selbstgerecht sein gegenüber dem, was uns selber leicht, anderen aber bedeutend schwerer fällt. Dass Freiheit die Freiheit der anderen ist, zeigt sich in dieser Ausnahmesituation so deutlich wie selten.
In meinem letzten Blogbeitrag habe ich dafür plädiert, während dieser Krise die jetzt gerade unter Beschuss stehenden Strukturen unserer Community zu stärken. Wir sollten Hilfsangebote, Gruppen, Bars, Clubs, Veranstaltungen, Theater, kleine Ensembles und Bühnen etc. auf verschiedene Art und Weise unterstützen, weil sie uns mehr Rückhalt und Entfaltungsmöglichkeiten bieten, als wir uns das oft bewusst machen. Mittlerweile gibt es sehr viele Initiativen, die genau dies tun, teilweise mit beachtlichem Erfolg. Und doch ist auch dies nur ein möglicher Blick auf die Wirklichkeit. Nach meinem Blogbeitrag hat mir ein Leser geschrieben, er könne meinem Aufruf leider nicht folgen: „Ich gehe sowieso nie hin, auch weil man dort im Alter noch einsamer fühlt, als zuhause.“ Ich weiß nicht, wer nach ihm schaut, wenn es ihm nicht gut geht. Wie in dieser Krise deutlich wird, wie wenig wir über die tatsächlichen Lebensumstände von LGBTI in unserer Gesellschaft wissen. Ich stelle mir vor, jetzt als ungeouteter Jugendlicher in einer homophoben Familie eingeschlossen zu sein, vielleicht sogar auf engem Raum. Oft ist in den letzten beiden Wochen auch über das erhöhte Risiko zur häuslichen und/oder sexuellen Gewalt gesprochen worden. Wir müssen uns bewusst machen, dass viele queere Menschen Opfer solcher Gewalt sind, auch wenn diese gar nicht unmittelbar homophob motiviert ist, auch wenn den Aggressoren gar nicht bewusst ist, dass sie da einen queeren Menschen vor sich haben. Sich schwach fühlen, voller Scham sein, das Gefühl, sich nicht wehren zu können, begünstigt es, zum Ziel von Gewalt und Aggression zu werden.
Wir bekommen die Angst, die Bedrohung und das Alleinsein der anderen nicht nur über das Stärken von Strukturen hin. Hier sind wir als einzelne Menschen gefragt, als Freunde und Bekannte. Aber eben auch als Teile unserer Gesellschaft und als Vertreter*innen unserer Community. Öffnen wir uns auch vermehrt Menschen, die nicht zu unserem inneren Zirkel gehören. Und vielleicht auch zusätzlich zum obligatorischen „Bist du gesund?“ dieser Tage öfter auch zu einem ehrlich gemeinten: „Wie geht es dir?“ Wir sollten uns jeden Tag bewusst machen, dass das, was für uns in der Krise auch Muße und Entschleunigung bedeuten mag, für andere der blanke Horror kann.
Hinzu kommt, dass in der Krise in der Gesellschaft autoritäre Sehnsüchte wachsen. Zwar sind, anders als in bei HIV und AIDS, die jetzigen Maßnahmen bisher nicht moralisch unterfüttert, zwar trifft Gefahr und Verantwortung potenziell jeden und nicht nur eine verachtete Minderheit. Und doch ist der Hang zum Autoritären eng verbunden mit dem Treten auf Minderheiten. Ein starkes „Wir“, erst recht unter „starker“ Führung, führt leicht zum Bedürfnis nach Abgrenzung. Auch wenn beides nichts direkt miteinander zu tun hat: Wie aus dem Lehrbuch fügt sich so der Rausschmiss von Transsexuellen aus dem Militär durch den damals neugewählten US-Präsidenten Trump zum Gesetzespaket der ungarischen Regierung, die es auf die Menschenrechte von trans* Menschen abgesehen hat, unmittelbar, nachdem sich diese wegen Corona der demokratischen Kontrolle durch das Parlament entzogen hat. In Uganda wurden über 20 Ugander unter dem Vorwand, durch das Zusammenleben in einer queeren Ugander unter dem Vorwand verhaftet, durch das Zusammenleben in einer queeren Notunterkunft die Verbreitung des Virus befördert zu haben.
Auch wenn wir das gerade nicht so realisieren, weil uns das Virus fest in seinem Bann hat: Das gesellschaftliche Fundament, auf dem wir als LGBTI in unserer Gesellschaft stehen, kann auch bei uns sehr leicht brüchig werden. Diese Brüchigkeit sollten wir uns bewusst machen, wenn wir uns fragen, wie wichtig es denn noch ist, für unsere Interessen zu kämpfen. Und das heißt auch, zum Beispiel daran zu erinnern, dass wir die Ehe für alle immer noch nicht hätten, wäre diese in der letzten Sitzung der letzten Legislaturperiode des Bundestages nicht durchgesetzt worden. Denken wir kurz darüber nach: Wo stünden wir heute? Nicht nur wegen des juristischen Schutzes, die die Ehe verheirateten Lesben und Schwulen in schwierigen Situationen nun bietet. Sondern auch, weil es fatal wäre, in diesen Zeiten noch die Diskussionen über unsere angeblich „defizitären“ Beziehungen führen zu müssen, die uns immer in einer schwachen, weil rechtfertigenden Position gezwungen hätten.
Dass Aktivismus, dass Kämpfen sich lohnt, zeigt sich in solchen Krisen, auch wenn wir es nur schwer spüren können. Um so mehr gilt es nun, unsere bürgerlichen Freiheiten zu verteidigen und diese heil durch die Krise zu bringen. Zwar verliert die AfD gerade deutlich an Zustimmung. Das bedeutet aber nicht, dass die von ihr offen ausgesprochenen Ressentiments nicht für breite Bevölkerungsschichten angesichts der angespannten Situation besonders attraktiv erscheinen:
„Große Krisen schaffen auch Klarheit: wir brauchen Krankenschwestern und keine Diversity-Berater, Naturwissenschaftler und keine Gendergaga-Experten, #Soforthilfe und kein
„Diese schlimme Zeit macht jetzt hoffentlich auch dem Letzten klar, dass Professoren für Medizin, Chemie und Biologie unendlich viel wichtiger sind als solche für „Gender Studies“ #WerteUnion“
Faschismusaffin ist das nicht nur, weil in einer tödlichen Krise das Beschäftigen mit Gerechtigkeits- und Minderheitenfragen auch in „normalen Zeiten“ als etwas angezählt wird, das diese Krise verschlimmert. Die Logik „Medizin statt Gender“ ist nicht nur entsetzlich dumm. Hinter diesen Tweets verbirgt sich auch ein grundsätzlich problematisches Freiheitsverständnis. Natürlich kann und muss immer über die Priorisierung verschiedener Wissenschaften und somit auch gesellschaftlichen Themen gestritten werden. Aber wer die „Wichtigkeit“ gesellschaftlicher Anliegen nur über deren vermeintlicher Relevanz in Krisenzeiten definiert, greift unsere pluralistische Gesellschaft im Kern an.
Und ganz abgesehen davon: Homo, Transphobie und Misogynie tötet. Gerade in dieser Krisensituation muss darauf hingewiesen werden, dass die Beschäftigung mit „Gender“ und die dadurch abgeleiteten Emanzipationsschritte nicht nur keine Menschenleben gefährden, sondern auch unzählige rettet. Eine zivile Gesellschaft versucht, möglichst alle Menschen schützen und nicht nur die, die nach Ansicht von AfD und Werteunion „wichtig“ sind.
Ja, vielleicht übertreibe ich mit meiner Warnung.
Aber die Lockerungen der Maßnahmen werden nicht gleichmäßig und gerecht sein. Es ist davon auszugehen, dass es für unterschiedliche Regionen und unterschiedliche Anlässe zeitversetzt unterschiedliche Regelungen geben wird.
Die aktuelle gesellschaftliche Stimmung ist geprägt vom Ruf nach drastischen Maßnahmen und dem Verlangen, dass diese auch effektiv zu überwachen. Was bedeutet das etwa für die CSDs dieses Sommers? Viele, wenn nicht die meisten werden sowieso, und nicht erst durch die Behörden, sondern schon von den Organisator*innen selbst abgesagt werden. Doch es mag Situationen geben, in denen im späteren Jahresverlauf öffentliche Community-Veranstaltungen aus epidemiologischer Sicht kein Problem darstellen. Wird die Bevölkerung dann dafür Verständnis haben? Laufen wir nicht auch da automatisch wieder in eine Debatte hinein, was „wichtiger“ ist? Wie systemrelevant ist queeres Leben? Wie groß das gesellschaftliche Verständnis dafür, was es uns bedeutet? Sind CSDs wichtiger als die Fußball-Bundesliga? Schwule Saunen wichtger als Eisdielen? Sind wir dieser Debatte gewachsen? Werden wir dagegen halten können, wenn wir unsere Errungenschaften verteidigen müssen? Am Anfang der Corona-Krise trauten sich die Politiker nicht, große Karnevalsveranstaltungen abzusagen. Ich bin mir sicher, die Situation wäre eine andere gewesen, wenn es sich um CSDs gehandelt hätte. Um mich nicht falsch zu verstehen: Es wäre wohl richtig gewesen, beides zu stoppen. Worum es mir geht:
Ist uns überhaupt selber klar, wie wichtig unser Zusammenkommen, unser gemeinsamer Kampf für Emanzipation ist, der nicht nur digital wird funktionieren können? Wir sind eine der gesellschaftlichen Gruppen, denen der Druck der Unfreiheit noch in den Gliedern steckt. Scheuen wir uns nicht, uns an diesen Druck in den Gliedern zu erinnern, um ihn nie wieder spüren zu müssen. Für uns, aber auch um der gesamten freiheitlichen Gesellschaft willen. In der Krise zeigt sich, was uns unsere Freiheit wert ist. ♦
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