Aufgrund der immer dramatisch werdenden Situation für die polnischen LGBTIQ habe ich vor wenigen Wochen in diesem Blog vorgeschlagen, dass der Berliner CSD sich in diesem Jahr ganz der Solidarität mit der Community unseres Nachbarlandes verschreibt. (Hier meine konkreten Vorschläge dazu.) Hierfür solle der CSD nicht, wie üblich, sich zunächst auf die Wahl eines Mottos konzentrieren, sondern zunächst grundsätzlich sich für ein politisches Anliegen entscheiden.
Diese Voraussetzung hat der Berliner CSD mittlerweile geschaffen und sein Verfahren geändert: „Über die Inhalte zum Motto“ heißt es nun. Bis zum 29. Februar können dort Themenvorschläge eingereicht werden:
„Welche politischen Inhalte sollte DEIN persönlicher CSD 2020 haben? Wir, der Berliner CSD e.V., haben unser Verfahren geändert und freuen uns auf eure politischen Fragen und Antworten, die euch unter den Nägeln brennen. Bis zum 29.2.2020 haben alle Interessierten, Teilnehmenden und Aktivist_innen die Möglichkeit, ihre politische Inhalte mit einer kurzen Begründung für unter community@csd-berlin.de einzureichen. Aus den Einsendungen werden die fünf meistgenannten Schwerpunkte evaluiert. Gemeinsam mit der Community wird aus diesen im Anschluss das Berliner CSD-Motto für 2020 entwickelt.“
Nun liegt es also an der Berliner Community, ob der Berliner CSD seine ganze Stärke nutzt, um sich für und mit den LGBTIQ unseres Nachbarlandes zu engagieren.
Mittlerweile erfahre ich von immer mehr Unterstützung für diesen Vorschlag. Unter der Überschrift „Pogrome verhindern – Polen braucht unsere Pride-Power!“ geht Stefan Mielchen, erster Vorsitzender des Hamburg Pride, sogar noch einen Schritt weiter. In einem Kommentar für die „Mannschaft“ betont er die Einzigartigkeit der polnischen Situation („Wann hat es das in der EU schon einmal gegeben, dass sich ganze Landesteile gegen sexuelle Minderheiten stellen?“) und fordert dann in einem leidenschaftlichen Plädoyer, dass nicht nur Berlin, sonders auch andere CSDs Polen in den Fokus rücken sollten:
„Die Pride-Saison 2020 sollte zu einem bundesweiten Signal der Solidarität werden – CSD-Tourismus inklusive.“
Wie wichtig diese Solidarität ist, zeigt nun ein Schreiben, das mich aus der polnischen Community erreicht hat mit der Bitte, es hier zu veröffentlichen.
Bitte lest Euch diesen Text durch, bitte teilt und verbreitet ihn, nutzt die Fakten und die Forderungen, um Euren CSD vor Ort davon zu überzeugen, dass unsere polnischen Nachbar*innen unsere Unterstützung brauchen! Informiert Eure Abgeordneten, macht Druck, wenn nötig, fragt sie, was sie tun, ladet sie dazu ein, Solidarität zu zeigen! Schreibt an Eure Städte und Kommunen, insbesondere die, die Partnerschaftsbeziehungen mit polnischen Städten unterhalten!
Lasst uns bitte nicht mehr darüber diskutieren, ob oder wie wir unsere CSDs politischer machen. Lasst uns sie stattdessen politischer machen! Indem wir mit ihnen Politik machen, in dem wir das machen, worum es in der Politik geht: Bewusstsein verändern, Verhältnisse ändern. Die Verhältnisse können so nicht bleiben.
Und jeder von uns kann etwas tun:
von Kuba Gawron
Derzeit sind in 88 Orten 93 Regelungen verabschiedet worden, die sich gegen LGBT+ richten.Sie lassen sich in zwei Arten unterteilen:Die erste richtet sich gegen die Verbreitung der sogenannten „LGBT-Ideologie“ (ein direkter Angriff auf die Rechte der LGBT+-Community).
Die zweite Art sind Beschlüsse „zum Schutz der Rechte von Familien“ (so kann man LGBTI-Organisationen bürokratisch ihre Arbeit erschweren oder unmöglich machen).
In „LGBT freien Zonen“ werden Lehrer, Schuldirektoren oder Erzieher, die sich entweder positiv oder auch nur „neutral“ zu LGBT äußern, mit schweren, beruflichen Konsequenzen durch lokale Regierungsorganisationen und/oder die örtliche Schulbehörde bedroht.
Auch wenn sie keine juristisch anwendbaren „Gesetze“ sind, sind diese Beschlüsse ein Mittel, mit dem massiver Druck auf Menschen ausgeübt wird, die in staatlichen Institutionen arbeiten.
Sie sollen abschreckend auf die kommunale Verwaltung wirken. Durch sie sollen Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsmaßnahmen verhindert werden, Unterricht über Themen wie Antidiskriminierung soll unmöglich gemacht werden, und LGBT-Organisationen sollen daran gehindert werden, öffentliche Räume für Konferenzen, Trainings oder Workshops nutzen zu können.
Die LGBT+ die davon am meisten getroffen werden, sind Schüler_innen, die eine ohnehin schon schwierige Entwicklungsperiode durchlaufen.
Parallel zu ihrer Identitätsfindung als LGBT+, müssen sie sich jetzt mit dem Hass, der Verachtung und Gleichgültig der Allgemeinheit auseinandersetzen, und erfahren dabei keinerlei Unterstützung durch Familien, Gleichaltrige, Lehrer, Politik, Medien oder den Staat.
Die Beschlüsse sind, kombiniert mit einer allgemeinen Mischung aus Angepasstheit, Angst und Unwissenheit, ein wirksames Instrument, um nicht heteronormativen Personen vom öffentlichen Leben auszuschließen. Beginnend mit denen, die als jüngste Mitglieder der Community unter direkter Aufsicht eines ihnen feindlich gesinnten des Staates stehen: Schüler_innen.
Aktuelle Zahlen:
Beschlüsse dieser Art gelten im Moment in
27 Dörfern
12 Kleinstädten
11 Städten
4 Städten mit Landkreisstatus
30 Landkreisen
5 Verwaltungsbezirken (Woiwodschaften, Polen ist in 16 Woiwodschaften unterteilt)
Die Regierungen dieser Verwaltungsbezirke erhielten im letzten Jahr 2 Milliarden Euro von der EU, davon 675 Millionen für Bildung und Verwaltung.
31% der Fläche Polens sind inzwischen sogenannten „LGBT freie Zonen“. Dort leben rund 12 Millionen Menschen, 1,8 Millionen von ihnen sind schulpflichtige Kinder. Davon sind schätzungsweise 90 – 180 Tausend LGBTI. Laut einer Untersuchung der Campaign against Homophobia hatten oder haben 70 Prozent aller LGBT+-Jugendlichen in Polen Selbstmordgedanken. Das wären dann zwischen 63.000 und 126.000 Jugendliche.
An weiteren Anti-LGBT+-Verfügungen wird in mindestens 40 kommunalen Verwaltungen gearbeitet, heißt, es gibt gegenwärtig Sitzungen, Petitionen oder Anfragen dazu.
Wir befürchten, dass die immer weiter voranschreitenden regionalen Regelungen nur die Vorstufe für ein dann von der nationalen Regierung erlassenes und im ganzen Land geltendes Gesetz sind.
Unsere Vorschläge für den CSD Berlin lauten deswegen:
– Ruft Politiker_innen dazu auf, die Einrichtung „LGBT freier Zonen“ öffentlich zu verurteilen. Sie und ihr könnt eure Regierung zu konkreten Maßnahmen auffordern, um der Institutionalisierung von LGBT+-Feindlichkeit in Polen entgegenzuwirken.
– Ruft die Europäischen Kommission dazu auf die Einrichtung „LGBT freier Zonen“ öffentlich zu verurteilen und Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu verhindern.
– Fordert betroffene Stadträte, Mitarbeiter_innen und Kommunalverwaltungen (hier die Liste polnischer Partnerstädte), die Führungspersonen örtlicher Parteiorgane und Medien dazu auf ihre Zusammenarbeit mit ihren polnischen Partnern daraufhin zu überprüfen, ob dort Anti-LGBT-Beschlüsse gelten
– Deutsche Politiker_innen und LGBT+ können zu erstmals stattfindenden oder noch sehr jungen polnischen CSDs kommen und an ihnen teilnehmen (Mehr als 20 von den in diesem Jahr geplanten CSDs in Polen fanden in den letzten zwei Jahren zum ersten Mal statt)
– diese Form der Unterstützung hat auch eine sehr praktische Auswirkung: Dank eurer Präsenz gibt es mehr Polizei zum Schutz der CSDs.
– Wir laden LGBT+ und die Organisator_innen von Prides aus deutschen und europäischen Städten (insbesondere die mit polnischen Partnerstädten) ein, eine Protest-Erklärung zu unterzeichnen.
Kuba Gawron ist Co-Organisator Equality Pride in Rzeszów. Er engagiert und vernetzt sich mit vielen anderen polnischen Aktivist*innen gegen die „LGBT+ – freien Zonen“.
Mit einer Mail an den Berliner CSD ( community@csd-berlin.de) kannst Du dem Vorstand mitteilen, dass Dich die Situation in Polen umtreibt und Du Dich für einen Solidaritäts-Pride einsetzt.
Hier findest Du eine Liste mit den Deutschen CSDs, wenn Du Dich in Deinem Pride für Polen engagieren möchtest.
Hier findest Du Deine(n) Bundestagsabgeordnete(n).
Hier siehst Du, ob Deine Stadt eine polnische Partnerstadt ist.
Danke an Markus Löw für die Unterstützung bei diesem Beitrag.
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