Mein Vorschlag für einen wirklich politischen Berliner CSD 2020

Wird alles so sein, wie (fast) immer? Also ungefähr so:

Alle Verantwortlichen und alle Beobachter betonen, dass der Berliner CSD endlich wieder politischer werden muss.  Um das zu erreichen, wird man sich vor allem über ein neues CSD-Motto streiten. Weil man enttäuscht darüber ist, dass das Motto vom letzten Jahr doch nicht zur wirklichen Politisierung der Community beigetragen hat und auch darüber, dass „die“ Medien viel zu wenig über die wichtige(n) Botschaft(en) des CSD berichtet haben, muss es aber diesmal wirklich ein Motto mit politischer Zündkraft sein. Dies wird dazu führen, dass genau das Gegenteil passieren wird: Also ein Motto, das alles kann und somit tatsächlich fast gar nichts können wird. Das Verfahren, mit dem der Berliner CSD sich jedes Jahr ein neues Motto gibt, führt fast immer automatisch  zum kleinsten gemeinsamen Nenner. Also zur größtmöglichen Belanglosigkeit.

Man darf man sich dieses Verfahren ungefähr so vorstellen: Eine Gruppe möchte gemeinsam ein Essen kochen. Doch statt sich vorher darauf zu verständigen, worauf man Lust hat, was das für ein Essen werden soll, wen man gerne einladen will, was man gerne mal ausprobieren würde, wie die Suppe schmecken soll,  usw. und man dann gemeinsam nach dem besten Rezept sucht, um dieses dann gemeinsam zu realisieren, darf jeder irgendwelche Suppennamen vorschlagen, über die dann abgestimmt wird. Das überfordert natürlich viele, weil es so viele vielversprechende Suppennamen gibt, und es schwer ist, sich für eine zu entscheiden. Und das, zumal ja gar nicht klar ist, was das eigentlich diesmal für ein Essen werden soll. Außerdem ist in vielen leckeren Suppen irgendetwas drin, was einige nicht essen mögen. Das führt entweder dazu, dass entweder die langweiligste Suppe gewinnt, also die mit möglichst wenig Eigengeschmack. Oder, weil man sich zwischen zwei, drei beliebten Suppen nicht entscheiden kann, man kommt auf die Idee, aus mehreren beliebten Suppenvorschlägen einen zu machen, also eine Suppe, in der so viele Geschmäcker drin sind, dass man keinen davon wirklich herausschmecken kann.

Sobald die diesjährige Suppe, also das diesjährige Motto feststeht, geht dann wie jedes Jahr die gegenseitige Beschimpfung los. Da das Motto niemandem so richtig schmeckt und man ahnt, dass man auch diesmal das selbstgesteckte Ziel, also endlich „wieder politischer“ zu werden, so nicht erreicht werden kann, werden Schuldige gesucht. Und auch gefunden: Die Community. Diese, so heißt es dann nämlich, hätte sich ja vorher mit besseren Vorschlägen engagieren können, statt nachher nur zu meckern. Außerdem hätten die, die jetzt meckern ja zur Abstimmung kommen können. Da nicht nur das Meckern über das Motto zur Berliner CSD-Tradition gehört, sondern auch das Meckern über die Meckerer, wird man es bei Appellen belassen, dass sich doch bitte mehr Leute engagieren sollen, vor allem jüngere und nicht nur Männer. Auf die Idee, etwas strukturell zu verändern (also Verfahren und Vorgehensweise zu überdenken, statt jedes Jahr erneut festzustellen, dass all diese Appelle nur dazu führen, dass niemand wirklich Schuld ist, man aber nicht wirklich weiterkommt) wird man wahrscheinlich nicht kommen.

Ist ja auch irgendwie egal. Man hat es ja versucht. Der CSD wird trotzdem voll. Vielleicht sogar ein neuer Rekord. Die Medien werden wieder irgendwas berichten. Man wird (völlig zurecht) stolz sein auf die eigene Arbeit, stolz sein, dass das alles irgendwie klappt.

Und das ist so verdammt schade.

Denn gerade, weil die AktivistInnen und Aktivisten, die vielen Ehrenamtlichen und natürlich der Vorstand des Berliner CSDs so eine enorme Arbeit leisten (die von der Community viel zu wenig gewürdigt wird), gerade weil der CSD trotz allem so viele Menschen auf die Straße bringt, wäre es so wichtig, dass auch der politische Output stimmt. Ja, es ist nicht nur wichtig, sondern auch notwendig: Die CSDs sind immer noch mit das wichtigste Instrument, das unsere Bewegung im Kampf gegen Diskriminierung und für gleiche Chancen zur Verfügung hat. Wir können es uns, besonders angesichts des rauer werdenden gesellschaftlichen Klimas, schlicht nicht leisten,  dieses Instrument nicht bestmöglich einzustellen und auszurichten.

Nein, es reicht nicht, sich über Community und Medien zu beschweren, darüber, dass diese die sogenannten „politischen Forderungen“ nicht wirklich aufgreifen, die der CSD seit einigen Jahren beschließt, um der weitgehenden öffentlichen Unwirksamkeit des Mottos entgegenzuwirken. Wie viel Prozent der CSD-TeilnehmerInnen, wie viel Prozent derjenigen, die den CSD über die Medien mitbekommen, nehmen diese Forderungen wirklich wahr? Ganz abgesehen davon, wie richtig, wie wichtig diese Forderungen sind? Kann man realistischerweise überhaupt davon sprechen, dass diese Forderungen wahrgenommen werden? Muss man sich langsam nicht die Frage stellen, ob die bisherige Praxis inklusive Motto und „politische Forderungen“ so einfach nicht funktioniert, wenn man wirklich mehr erreichen will?

Müsste der Berliner-, der Hauptstadt-CSD nicht den Anspruch haben, wirklich etwas zu verändern, wirklich etwas beizutragen zur bundesweiten Debatte und Sichtbarkeit um die Situation unserer Minderheiten? Müssten wir nicht den Anspruch haben, dass wir die Aufmerksamkeit, die diese riesige Demonstration hat und die Aufmerksamkeit, die unsere Minderheiten einmal im Jahr durch diese Demonstration haben, auch dazu genutz werden, dass wir nicht einfach nur wahrgenommen werden?

Also: Warum reden wir statt über ein Motto nicht darüber, wie wir das erreichen können? Warum reden wir nicht darüber, wie wir  die potenzielle Macht des CSD in eine tatsächliche verwandeln können? Was dann bedeutet: Wann gestehen wir uns ein, dass politische Forderungen zu stellen, und diese herauszurufen noch keine politische Tat sind? Dass nicht nur die Medien Schuld sind darüber, wie über uns politisch (nicht) berichtet wird, sondern auch das, was wir ihnen anbieten? Dass politisch sein, vor allem heißt Partizipation und Identifikation zu ermöglichen und dass es dafür ein Anliegen und einen Plan braucht. Einen Plan, mit dem alle etwas anfangen können und der vor allem auch wirklich gelingen kann.  Weil wir die Möglichkeiten, die ein solcher CSD hat, tatsächlich bündeln und gemeinsam nutzen.

Doch was könnte das sein?

Andererseits: Ist das wirklich so schwer?

Von der Stadtgrenze Berlins bis zur Grenze nach Polen sind es keine 100 Kilometer. Und in Polen geschieht gerade Unglaubliches: Es werden LGBTI-freie Zonen ausgerufen. Unsere Leute werden von breiten Teilen von Politik, Gesellschaft und Kirche zu Feinden der Gesellschaft erklärt. LGBTI werden auf offener Straße angegriffen, was bei er politischen Führung nicht zu Bemühungen führt, den Schutz und die selbstverständliche Sichtbarkeit von LGBTI zu erhöhen, sondern diese weiter einzuschränken. Würde es diese Zustände in einem südamerikanischen oder afrikanischen Land geben, hätten wir von deren Botschaft in Berlin schon längst Mahnwachen abgehalten. Doch obwohl, oder vielleicht auch: weil Polen so nah ist, finden wir nicht den richtigen Umgang. Ja, wir finden quasi überhaupt keinen Umgang. Wir lassen es geschehen, sind desinteressiert oder überfordert. Oder vielleicht eine merkwürdige Mischung aus beidem?

Die Situation in Polen zeigt nämlich, wie wenig politisch es ist, einfach nur einen griffigen Claim, einfach nur scharfe politische Forderungen zu stellen.

Michael Roth, der offen schwule Staatsminister im Auswärtigen Amt, hat in einem Interview mit dem Magazin „Mannschaft“ deutlich gemacht, dass es eben nicht ausreicht, LGBTIQ-feindliche Tendenzen in Polen zu verurteilen:

«Klare Worte führen eben nicht automatisch zu einer Veränderung. Aber wenn wir in Polen denjenigen den Rücken stärken, die couragiert dafür eintreten, dass ihr Land liberal, offen und inklusiv bleibt, dann dürfte das erfolgreicher sein, als hier in Berlin etwas selbstgerecht zu beklagen, wie furchtbar man die da in Polen oder Ungarn findet. Man muss sich schon mehr anstrengen.»

Also: Warum machen wir nicht genau das? Warum strengen wir uns nicht an? Warum nutzen wir nicht die ganze Kraft des diesjährigen Berliner CSDs, um die Situation unserer polnischen NachbarInnen zu verbessern, indem wir denen den Rücken stärken, die dort für ihre, und damit ja auch für unsere Rechte kämpfen?

Wenn eine Institution hier wirklich etwas bewirken kann, dann ist es die gebündelte Energie unseres CSDs. Aber um umgekehrt: Wenn unser CSD sich wirklich eine sinnvolle Aufgabe vornehmen will, dann ein solches – im wahren Wortsinne – nahes Anliegen: Eines, das konkret und grundsätzlich zugleich ist, eines, das aktuell und dringend ist, eines, das es uns ermöglicht, unseren Kampf inhaltlich wie strukturell weiterzuentwickeln.

Wenn wir das wirklich ernst nehmen mit der Solidarität, dann können wir es nicht zulassen, was da in unserer direkten Nachbarschaft passiert. Wenn wir es wirklich ernst nehmen mit der Solidarität, dann müssen wir aber auch ernst nehmen, was Michael Roth sagt. Statt über ein Motto oder über Forderungen zu diskutieren, müssen wir uns also anstrengen, uns etwas einfallen lassen. Warum also lassen wir nicht erstmal diesen ganzen hohlen Mottoquatsch und treffen eine Grundsatzentscheidung: Unser nächster CSD widmet sich der Situation in Polen.! Aber nicht, in dem wir groß verkünden, was dort zu tun ist. Sondern indem wir den CSD und seine Konzeption nutzen, unsere Leute dort zu stärken. Also: Laden wir sie ganz bald ein, mit uns zu überlegen, wie und wo unser CSD einen Beitrag leisten kann. Fragen wir sie, was wir tun können, bieten wir ihnen unsere Möglichkeiten, ihre zu verbessern. Keine Ahnung was sie brauchen. Geld? Logistische Unterstützung? Kontakte zu Wirtschaft, Politik, Medien? Aufmerksamkeit? Neue Freundinnen und Freunde, MitstreiterInnen mit denen sie sich austauschen können? Sie können es uns bestimmt sagen. Und dann hätten wir auch eine bessere Vorstellung davon, was das alles für die Parade, das Bühnenprogramm, die Medienarbeit, die Einbindung von Community und Sponsoren bedeuten könnte.

Sie können uns auch bestimmt sagen, wie ein Motto aussehen könnte. Wäre das nicht was? Ein polnisches Motto für unseren CSD, eines, das alle Medien übersetzen und erklären müssten? Wäre damit nicht automatisch auch das Problem gelöst, dass „den“ Medien unser Motto egal ist? Und wenn man bedenkt, dass die katastrophale Situation unserer Minderheiten in den deutschen und anderen europäischen Medien und in der politischen Diskussion so gut wie keine Rolle spielt: Wäre dies nicht eine effektive Gelegenheit, dies zu ändern?

Man kann jetzt schon auf der Homepage des Berliner CSDs einen Wagen für die Parade anmelden. Da das wohl noch nicht viele getan haben werden: Warum stoppen wir nicht diesen ganzen Prozess erstmal? Warum finden wir nicht erstmal heraus, was wir mit diesem CSD wollen, bevor wir ihn bestücken? Vielleicht machen wir es ja zur Auflage, dass jede teilnehmende Institution, vor allem aber auch jede teilnehmende Firma irgendeinen Beitrag leisten muss, der unseren polnischen Freundinnen und Freunden nutzt. Keine Ahnung: Je nach Möglichkeiten ideell aber auch vielleicht auch finanziell. Wir können von Firmen, die hier in Berlin mit ihrer Solidarität für uns werben, erwarten, dass diese Solidarität auch dort gilt, wo es schwieriger ist. Davon könnten nicht nur unsere polnischen Freundinnen und Freunde profitieren. Es wäre ein effektiver und auch ein längst überfälliger Ausleseprozess darüber zu bestimmen, wem wir als Community erlauben wollen, sich mit unseren Regenbogenfarben zu schmücken. Denn wir dies nicht auch bereit ist in Ländern wie Polen zu tun (falls unsere polnischen Freundinnen und Freunde das wollen), sollte uns auch in Berlin gestohlen bleiben.

Also: Machen wir den Berliner CSD politischer! Strengen wir uns an!  Zeigen wir keine Solidarität, sondern organisieren sie! Hören wir auf mit diesen albernen Appellen an die Community, sondern überlegen, wie wir sie wirklich einbinden können. Überzeugen wie sie mit einem politisches Ziel, einer gemeinsamen Kraftanstregnung, die wirklich etwas verändern kann. Fangen wir selbst wieder an, an Bewegung zu glauben!

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