Unter dem Motto #Actout starteten am Freitag im Magazin der Süddeutschen Zeitung 185 Schauspieler*innen, die sich als schwul, lesbisch, bi, queer, nicht-binär und trans bezeichnen, ein Massen-Coming-out. In einem Manifest fordern sie mehr Sichtbarkeit und Repräsentanz queerer Schauspieler*ìnnen und queerer Themen und Geschichten in Film, Fernsehen und Theatern. Die bisher heftigste mediale Kritik zu #Actout schrieb Sandra Kegel, Chefin des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der Text sorgte in und außerhalb der Community für Entsetzen.
Hier meine „Gegenrede“:
Sehr geehrte Frau Kegel,
in ihrem Verriss der Coming-out-Aktion #Actout in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung haben sie nicht nur ein Zerrbild der Lebens- und Berufswirklichkeit queerer Schauspieler*innen gezeichnet, sondern auch der Situation queerer Menschen in Deutschland. Ihr Text ist voll von sachlichen Fehlern, bösartigen Verdrehungen und homophoben und queerfeindlichen Ressentiments, wie sie die Community vor allem von rechter Seite kennt. Es ist für mich schwer nachvollziehbar, dass sie verantwortlich für eines der wichtigsten Feuilletons deutscher Sprache sind. Und da man sie in Jurys vieler Buchpreise beruft, schaudert mich der Gedanke, dass queere Stoffe und queere Geschichtenerzähler*innen von Menschen wie Ihnen bewerten werden könnten. Aber vielleicht haben Sie ja alles nicht so gemeint?
Fangen wir von vorne an:
Sie nehmen Bezug auf die seit über zwanzig Jahren als lesbisch geoutete Schauspielerin Ulrike Folkerts, die sich beklagt, dass sie aufgrund ihrer Homosexualität von Castern nicht als Mutter besetzt wird und als Beispiel für eine “Traumrolle” diejenige von Frances McDormand in „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ nennt.
Das Erste, was ihnen dazu einfällt, ist, dass es “durchaus Selbstbewusstsein” brauche, sich “mit einer der größten Schauspielerinnen des Universums” zu vergleichen. Es klingt wie eine Randbemerkung. Allerdings lautet auch die Überschrift ihres Textes “Selbstbewusstsein und Kalkül” und offensichtlich ist es das, was sie als „wahre“ Motivation hinter dem Coming-out der Schauspieler*innen sehen.
Studien zeigen, dass Diskriminierungserfahrungen wie diejenigen, die von den Künstler*innen als Anlass für #Actout beschrieben werden, krank machen können, da sie das Selbstbewusstsein angreifen und die Chancen im Job schmälern. Sie unterstellen der Aktion das Gegenteil. Sie konstruieren ein übersteigertes Selbstbewusstsein, eine Hybris, die eine Schauspielerin wie Ulrike Folkerts dazu verführe, sich mit einer der besten des Universums zu vergleichen, deren Rolle sie gerne haben möchte.
Doch Folkerts hat sich nicht mit McDormand “verglichen”. Sie hat beschrieben, was eine ihrer Traumrolle ist und das gemacht, was jede Schauspieler*in der Welt macht, wenn man sie danach fragt: Sie träumt. Und sie versucht, was für queere Menschen – nicht nur für Schauspieler*innen – so wichtig ist: Sich selbst außerhalb der Rollen vorzustellen, die die Gesellschaft ihnen vorgeben möchte. Das ist keine Hybris, sondern der ganz normale Wunsch nach Teilhabe. Ein Wunsch, der ihnen ganz offensichtlich obszön erscheint.
Mit “Selbstbewusstsein und Kalkül” suggerieren sie, dass es den Schauspieler*innen gar nicht darum gehe, eine Ungerechtigkeit zu überwinden, sondern – im Gegenteil – dass sie mit “Kalkül” ihre sexuelle Identität dafür nutzen wollten, Vorteile im Job zu erreichen.
Ihr gesamter Text basiert auf der großen homophoben und queerfeindlichen Erzählung unserer Tage: Demnach werden queere Menschen gar nicht mehr richtig diskriminiert. Und wenn sie sich dann trotzdem gegen die angeblich nicht mehr vorhandene oder nicht mehr so schlimme Diskriminierung engagieren, dann machen sie das nur, um Vorteile daraus zu ziehen. Es ist eine gefährliche Logik, wie sie auch im Antisemitismus zu finden ist: Eine angeblich privilegierte Minderheit instrumentalisiert ihre nur vorgeschobene Herabsetzung, um sich über andere zu erheben. Diese Täter-Opfer-Umkehr begründet einen Großteil des Hasses, dem queere Menschen ausgesetzt sind. Es macht unfassbar traurig, dass in der FAZ dafür Platz ist.
Doch der Reihe nach.
Um das #Actout-Manifest, das Sie eine “vierzehnseitige Klage” nennen, attackieren zu können, schrecken sie nicht davor zurück, dessen Aussagen ins Gegenteil zu verkehren. Sie schreiben:
“Natürlich lassen sich Gegenbeispiele von Hollywood bis „Soko“ finden, und dass Unterzeichner wie Ulrich Matthes, der natürlich ungezählte Familienväter spielte, …”,
Doch das ist kein Beispiel gegen #Actout, sondern genau das Argument, was von den Schauspieler*innen selbst vehement vorgebracht wird: Selbstverständlich können Schauspieler wie Ulrich Matthes heteronormative Rollen spielen und natürlich tun sie das auch. Genau aus diesem Grund wurde die ganze Aktion mit der Überschrift „Wir sind schon da“ betitelt. Das von #Actout vorgebrachte Problem liegt genau andersherum. Es geht darum, dass queere Menschen zwar “Hetero-Rollen” spielen können und auch spielen, aber dafür den Preis eines Versteckspiels zahlen müssen.
Noch unredlicher wird es im Fortgang des Zitates:
“… oder auch Udo Samel, Mavie Hörbiger oder Maren Kroymann an Unterbeschäftigung litten aufgrund verschlossener Türen, hat ihre Dauerpräsenz nicht vermuten lassen.”
Ach ja? Haben sie mit ihnen darüber gesprochen? Maren Kroymann sagt in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung von 2019, dass gute Rollenangebote als Schauspielerin nach ihrem Coming-out zunächst ausgeblieben sind. In einem Gespräch von 2018 berichtet sie:
„Ich habe tatsächlich 20 Jahre lang im öffentlich-rechtlichen Fernsehen so gut wie keine Rolle mehr gespielt, in der ich Sex hatte oder ein Mann in mich verliebt war. Das Ergebnis kann doch nicht sein, dass ich nur noch Lesben spiele. Ich kann zum Beispiel auch gut Mütter spielen, ohne selbst Kinder zu haben.“
Also selbst bei Maren Kroymann stimmt ihr Argument nur dann, wenn man der Meinung ist, dass Schauspieler*innen nach ihrem Coming-out nur noch bestimmte Rollen spielen sollen. Und wir reden hier von Maren Kroymann! Sie ist einer der ganz wenigen sehr bekannten und gleichzeitig offen lesbischen Schauspielerinnen der letzten Jahrzehnte. Oder wie viele fallen ihnen sonst noch ein? Außer Ulrike Folkerts? Und wie viele Talkshows oder Rote-Teppich-Auftritte fallen ihnen von Udo Samel oder Marvie Hörbiger ein, in denen diese das machen, was heterosexuelle Kolleg*innen dauernd tun: Einen Partner ins Spiel bringen, etwas von ihrer privaten Welt erzählen? Auch hier ist ihr Argument nur ein Argument, wenn man der Meinung ist, dass queere Menschen all dies unterlassen sollten.
Weiter geht es in ihrem Text:
“ ….Womöglich sind ja die Türen, die sie „aufmachen wollen“, bereits sperrangelweit offen. Vielleicht aber quietschen sie auch noch gehörig.”
Puh. Seien Sie nicht böse, aber ich frage mich langsam wirklich, wie Sie auf die Idee kommen konnten, beruflich über Kultur schreiben zu wollen, und noch mehr, wie man Ihnen die Verantwortung über Menschen übertragen konnte, die über Kultur schreiben, wo Ihnen die Verhältnisse der Branche, die Gegenstand ihrer Arbeit sind, doch offensichtlich völlig fremd sind.
Wenn die Tür “sperrangelweit offen” ist: Wie erklären Sie es sich dann, dass Agent*innen und Caster*innen bis heute fast immer zu einem Coming-out abraten, um die Karriere nicht zu gefährden, oder nicht auf bestimmte, oft klischeehafte Rollen festgelegt zu werden?
Wie erklären Sie es sich, dass selbst Stars wie Udo Samel und Ulrich Matthes so lange damit gehadert und sich nur in einer Aktion dazu durchgerungen haben, in der es möglich war, die Aufmerksamkeit auf so viele Köpfe zu verteilen?
Wie erklären Sie es sich, dass selbst in diesem Best-case für eine Coming-out-Gelegenheit die größten ungeouteten Namen fehlen? Und vor allem die Namen im sogenannten “Love-Interest”-Alter der jungen männlichen Lover- und Heldenrollen?
Sie schreiben:
“So könnte man das Manifest der 185 durchaus als Gesprächsangebot aufgreifen. Nur zu. Die Diskussion wird längst geführt. So hat der wichtigste deutsche Produzent Nico Hofmann gerade eine Selbstverpflichtung in Sachen ‚Diversity‘ ausgerufen, die er so orthodox auslegt, dass Dominik Graf schon eine ‚Zensur der Stoffe‘ befürchtet.”
Verstehe ich Sie richtig? Weil eine Diskussion bereits geführt wird, sollen die, um die es in der Diskussion geht, besser schweigen? Und weil Dominik Graf etwas befürchtet, braucht es keine zusätzlichen Perspektiven?
Weiter geht’s:
Um #Actout so richtig in die Tonne treten zu können, vergleichen Sie die Initiative mit dem 1971 erschienen „legendären „Stern“-Titel ‘Wir haben abgetrieben’” Da zeige sich das „Kalkül im Ringen um Aufmerksamkeit bei Verkennung der Verhältnisse.”
Welches “Kalkül” treibt Sie, sich hier nicht auf die bereits 1978 ebenfalls als “Stern”-Titelstory erschienene Aktion zu beziehen, in der 682 Männer “bekennen”: “Wir sind schwul!” ?
Sie stören sich an der “Aufmachung”, u.a. der vielen kleinen Porträts, die an “Wir haben abgetrieben” erinnerten. Ist das Ihr Ernst? Ein Massen-Coming-out soll auf die naheliegende Form der Veröffentlichung vieler kleiner Porträtbilder verzichten, weil das in einer völlig anderen Aktion auch naheliegend war?
Mit der Fallhöhe, die sie selbst gebaut haben, versuchen sie nun, #Actout argumentativ zu Fall bringen:
“Als sich am 6. Juni 1971 im „Stern“ 374 Frauen öffentlich dazu bekannten, abgetrieben zu haben, verstießen sie damit gegen geltendes Recht und riskierten viel – nicht zuletzt mehrjährige Haftstrafen.”
Um dann mit Argument zu enden, das nicht nur im übertragenen Sinne ein Totschlagargument ist:
“Bei einer Rolle übergangen zu werden mag ärgerlich sein und sicherlich auch kränkend, aber lebensgefährlich ist das nicht.”
Ich schreibe den Satz für sie noch einmal auf, damit Sie sich besser daran gewöhnen können, dass er ab sofort aus ihrem Oeuvre nicht mehr wegzudenken ist. Wobei ich mir sicher bin, dass nachfolgende Generationen anzweifeln werden, dass dieser Satz von 2021 ist und nicht von 1951. Also:
“Bei einer Rolle übergangen zu werden mag ärgerlich sein und sicherlich auch kränkend, aber lebensgefährlich ist das nicht.”
Wer aufgrund von Diskriminierung eine Rolle nicht bekommt, sollte sich nicht darüber beschweren, weil ihn das nicht umbringen kann. Womit fangen wir an?
Zunächst vielleicht damit, dass das, was sie als “ärgerlich” und “kränkend” beschreiben, keine narzisstische Kränkung zur Melodramatik neigender Künstler*innen ist, sondern ganz banal ein Existenzproblem. Mein Tipp an die Feuilleton-Chefin: Reden Sie doch einfach mal mit Schauspieler*innen! Vielleicht erfahren Sie ja etwas über deren wirkliche Verhältnisse, über die TV-Spielfilm schreibt:
“Von den rund 5000 Schauspielern, die hierzulande für Film und Fernsehen arbeiten, ‚können etwa zwei Prozent von ihrer Arbeit leben, einer kleiner Teil davon ausgezeichnet‘, sagt Daniel Philippen, Agent in der ZAV-Künstlervermittlung, die zur Agentur für Arbeit gehört. Seit 2008 haben sich die Einkünfte halbiert, die Drehzeiten werden kürzer, die Gagen geringer.”
Finden Sie wirklich, Ihr “So what?” ist eine angemessene Reaktion darauf, dass ein großteils prekärer Beruf noch erheblich prekärer zu werden droht, sobald man so offen und frei leben möchte, wie die heterosexuellen Kolleg*innen im gleichen Job das auch tun?
Aber Ihr Satz ist nicht nur wirtschaftlich gesehen – also auf die Berufschancen der Betroffenen bezogen – brutal und geht weit über die Bedeutung für Schauspieler*innen hinaus: Er definiert ein reaktionäres Verständnis von Gesellschaft und hat eine fatale Signalwirkung.
In Deutschland sind nur ein Drittel aller queeren Menschen out im Job. Die meisten verstecken sich nicht, weil sie “gekränkt” sind, sondern weil sie abgewertet werden oder Angst vor Abwertung haben. Dies passiert diffus, aber auch sehr konkret. Ich kenne unzählige Beispiele von Menschen, denen von Vorgesetzten bedeutet wurde, sich während der Arbeit nicht als schwul, lesbisch, oder trans zu erkennen zu geben. Ich rede von Personen, die wir alle als selbstbewusst beschreiben würden, Manager*innen, Pfleger*innen, Lehrer*innen. Studien zeigen: Dies ist nicht die Ausnahme, sondern ein Teil der Regel. Für sie bedeutet das nicht nur eine massive Einschränkung ihrer Entfaltungsmöglichkeiten im Job, sondern auch im privaten Leben. Es ist kein Zufall, dass LGBTI weniger verdienen als nicht-queere Menschen.
Die einzelnen Situationen und Formen der Diskriminierung sind sehr unterschiedlich, doch sie haben alle die gleiche Ursache: Homophobie und Queerfeindlichkeit. All das passiert, weil es überall in Deutschland Menschen gibt, die sagen: Finde dich damit ab, es bringt dich doch nicht um! Und, meist unausgesprochen: Hättest ja nicht Kinderpfleger werden müssen, du weißt ja, wie die Eltern sind. Hättest dich ja nicht auf die Management-Stelle bewerben müssen, du weißt doch, wie die Kunden sind. Hättest doch nicht Schauspielerin oder Schauspieler werden müssen!
Wo fängt das an, wo hört das auf? Was sollen schwule, lesbische, bisexuelle, queere, nicht-binäre und trans Menschen noch alles nicht dürfen, womit sich noch alles abfinden, nur weil es “nicht lebensgefährlich” ist?
Das Schlimme ist: Ihre Argumentation erstickt jede Emanzipation und jede Antidiskriminierungspolitik im Keim.
Und trotzdem möchte ich mich bei Ihnen bedanken. Schon lange hat ein Text in einer großen deutschen Tageszeitung nicht mehr so deutlich gemacht, warum es so schwer ist, die Diskriminierung von LGBTIQ in unserer Gesellschaft zu überwinden. Es sind nicht die Wütenden oder die Bildungsfernen.
Es sind die netten, die klugen Köpfe. Es sind Menschen wie Sie. Aber Sie können das ändern.
Bitte fangen Sie bald damit an!
Mit freundlichen Grüßen
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In meinem Podcast habe ich mit den beiden #ActOut-Initiator*innen, der Schauspieler*in Karin Hanczewski („Tatort“) und ihrem Kollegen Godehard Giese („Babylon Berlin“) über ihre Initiative gesprochen: Die bewegende Entstehungsgeschichte, die Reaktionen und was nun passieren soll. Der von queer.de präsentierte QUEERKRAM-Podcast lässt sich auch auf allen großen Podcast-Portalen und Apps abspielen.
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Hier der Ursprungsbeitrag zum Thema #Actout:
Schauspieler*innen-Coming-out: Der Kampf beginnt erst jetzt!
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Weitere Beiträge zum Thema:
Queer in den Medien: Homosexualität ist keine Privatsache!
(Rede zur Gründung der Queer Media Society)
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Im Theatermagazin habe ich 2018 über Homophobie in Theater, Fernsehen und Film geschrieben und Coming-outs von Schauspieler*innen geschrieben. Ich bin sehr froh, dass sich die Überschrift von damals jetzt überholt hat. Sie lautete:
Jeder springt für sich allein.
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Dossier: Alle Beiträge zur Homophobie der FAZ
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