SPIEGEL-Kulturchef schürt Angst vor trans: Ahnungslos durch die Nacht?

Man kann es natürlich doof finden, was gerade alles so passiert. Dass es trans Menschen gibt, etwa, die in ihrer Geschlechtsidentität ernst genommen werden wollen. Oder, dass es Menschen gibt, die sich nicht länger mit Alltagsrassismus abfinden möchten. Ja, das kann man doof finden und irgendwie anstrengend, besonders dann, wenn man nicht trans ist und auch nicht von Rassismus betroffen. Aber wenn man dann darüber schreiben möchte: Sollte man sich dann nicht vielleicht trotzdem ein bisschen mit dem beschäftigen, worüber man da schreibt? Vielleicht zehn Minuten? Zumindest dann, wenn man der Kulturchef des wichtigsten deutschen Nachrichtenmagazins ist? 

Das Essay „Achtung, Sie verletzen die Sprachgrenze“ von Sebastian Hammelehle im aktuellen SPIEGEL wird eingeleitet mit dem Satz:

Elliot Page war mal eine Frau, sein früherer Name darf nicht mehr genannt werden.

Hätte sich der SPIEGEL-Redakteur diese 10 Minuten gegönnt, hätte er bestimmt mitbekommen, dass es trans Menschen wie Elliot Page beim Bemühen darum, den ehemaligen Namen aus der Öffentlichkeit herauszuhalten, eben nicht darum geht, dass sie – wie beim Beispiel von Page – “mal eine Frau” waren, sondern nie eine Frau gewesen sind.

Er wüsste, dass es unterschiedliche Formen von trans Identitäten gibt und dass es manche Menschen gibt, die kein Problem damit haben, mit ihrem ehemaligen Namen in Verbindung gebracht werden und eben andere – wie Elliot Page – für die das ein Problem darstellt. Warum das alles so ist, will ich hier nicht diskutieren und erklären, zumal das ja durch trans Autor*innen und – Organisationen ausgiebig und leicht verständlich geschieht. 

Ist es für einen leitenden SPIEGEL-Redakteur zu viel verlangt, sich kundig zu machen? 

Aber es kann theoretisch natürlich auch anders sein, doch dann wäre es noch viel schlimmer: Dass er sich diese zehn Minuten gegönnt hat und vielleicht ja sogar noch mehr. Und dass er trotzdem der Meinung ist, trans Menschen stünde es nicht zu,  darauf zu pochen, dass Geschlechtsidentität nichts mit dem zugewiesenen Geschlecht zu tun hat. Denn warum sagt er es dann nicht? Warum macht er seinen Widerspruch nicht klar und macht deutlich, wogegen er widerspricht?  Warum unterlässt er es, die Position, der er zu diskreditieren bemüht, zumindest deutlich zu machen? Warum führt er seinen Artikel mit einer These ein, ohne zu sagen, dass es eine These ist? 

Man wünscht sich wirklich, dass dieser Essay aus Ahnungslosigkeit geschrieben worden ist. Was es aber natürlich nicht besser, und vor allem nicht weniger verantwortungslos machen würde. 

Er schreibt:

Die Zahl der Transmenschen ist klein. Der kulturelle Umbruch jedoch, der von ihnen und anderen Minderheiten ausgeht, gewaltig. Dafür ist das Verschwinden von Elliot Pages Totnamen nur ein weiteres Indiz. Dieser Umbruch hat viel mit Sprache zu tun, er hat neue Wörter hervor- und alte in Misskredit gebracht. Und manches dieser Wörter, Deadnaming zum Beispiel, klingt ein wenig nach Neusprech, der Kunstsprache aus George Orwells Roman »1984«. Auch in dem verschwinden Namen aus der Öffentlichkeit. Orwell nennt das »vaporisieren«, verdampfen. Nun also wird Elliot Pages Totname vaporisiert. Und damit ein Teil seiner Vergangenheit.

Es muss wirklich schlimm um die nicht-transsexuelle Mehrheitsgesellschaft stehen, wenn der SPIEGEL-Kulturchef zu solchen Vergleichen greifen muss, um sie vor trans Menschen zu verteidigen. In George Orwells Roman geht es darum, dass ein totalitärer Staat durch den “Neusprech” die Freiheit des Denkens aushebelt. 

Und nochmal: Hat Hammelehle auch nur im Ansatz begriffen, worum es geht? Elliot verschweigt ja nicht seine Vergangenheit, im Gegenteil: Er thematisiert sie und nutzt sie dazu, anderen Menschen Mut zu machen. Es ist Hammerlehles gutes Recht, nicht nachvollziehen zu können, wie wichtig es für viele Menschen ist, nach einem trans Coming-out nicht gegen den alten Namen kämpfen zu müssen, mit dem aus der nicht transsexuellen Mehrheitsgesellschaft ein solcher Schritt oft unglaublich schwer gemacht wird. Hat der SPIEGEL-Kulturchef nicht mitbekommen, wie gegen trans Menschen gehetzt wird? Und welche Rolle dabei alte Bilder und der alte, der Deadname spielt, das Vergnügen des rechten Pöbels, diesen immer wieder sichtbar zu machen als “Beweis” dafür, dass der Mann oder die Frau gar nicht “echt” ist, sondern sich nur „verkleidet“?

In dieser aufgeheizten Situation sorgt sich der SPIEGEL-Redakteur um das Recht der Mehrheitsgesellschaft, einen Menschen  bei dem Namen nennen zu dürfen, den er für sich nicht akzeptieren möchte, statt um diejenigen, die mühsam darum kämpfen, endlich der sein zu dürfen, der sie sind?

Hammelehle:

Es gibt Argumente, Pages Namenswechsel mitzutragen. Als Zeichen der Solidarität zum Beispiel: mit all denjenigen Transpersonen, deren Lage prekär ist. Und doch war es nie besonders wahrhaftig, die Geschichte zu manipulieren. Selbst wenn man glaubt, gute Gründe zu haben.

Geht es nicht etwas kleiner? Nach Hammerlehles Logik – zu Ende gedacht – sollten trans Menschen sich lieber mit ihrem Deadname abfinden, weil sie sonst für das Grollen in der Gesellschaft verantwortlich sind:

Dass ein derartiger Umbruch nicht alle Menschen begeistert, dass er zu Irritationen führt, zu Stirnrunzeln, leisem Grollen oder gar lauter Abwehr, lässt sich wohl nicht vermeiden.

Namenswechsel schreibt Geschichte um. Laute Abwehr lässt sich wohl nicht vermeiden.

Wenn die Sprache sich verändert, betrifft das jeden. In einer Allensbach-Umfrage meinten im Juni 44 Prozent der befragten Deutschen, sich zu gewissen Themen nicht mehr frei äußern zu können. Niemals in der Geschichte der Bundesrepublik war dieser Wert höher.

Dass 44 Prozent der Deutschen sich zu gewissen Themen nicht mehr denken frei äußern zu können, hat zuallerletzt damit zu tun, dass trans Personen jetzt einen anderen Namen haben. Auch die Studie, von der auch der SPIEGEL-Mann weiß, wie umstritten sie ist, gibt jedenfalls keine Hinweise darauf. Der uebermedien-Newsletter schreibt, dass in den veröffentlichten Daten keine Belege für ein Gefühl der Gängelung zu finden sei:

Details über Fragen und Antworten veröffentlicht das Allensbach-Institut immer erst mit ein paar Wochen Verspätung, deshalb lohnt es sich, einen Blick in die Dokumentation der Umfrage zum selben Thema vor zwei Jahren zu werfen. Dort gibt es zum Beispiel die Liste der „heiklen Themen“, bei denen viele Menschen auf Vorlage des Interviewers sagen, dass „man sich leicht den Mund verbrennen kann, wenn man darüber spricht“. 

Die Top 5: 

  • Über Flüchtlinge (71 %)
  • Über Muslime, den Islam (66 %)
  • Über Juden (63 %)
  • Über Hitler, das Dritte Reich (58 %)
  • Über Rechtsextremismus (49 %)

Aber natürlich kann es trotzdem sein, dass es auch Menschen gibt, die ein Problem mit trans Menschen haben, die ein Problem mit ihrem Deadname haben. Aber wäre es dann nicht Aufgabe eines SPIEGEL-Journalisten, etwas von der Situation dieser trans Menschen zu vermitteln, statt den Leuten einzureden, wie begründet ihr Problem angeblich ist?

Der SPIEGEL hat sich stattdessen entschieden, dieses Problem zu verstärken. Nicht die Diskriminierer, sondern die Diskriminierten sollen sich ändern. Nicht die Diskriminierer, sondern die Diskriminierten sind schuld. Hat da beim SPIEGEL wirklich niemand gemerkt, wie transphob das ist?

 Hammelehle findet gegen Schluss seines Essays:

Im Idealfall wäre Sprache ein Mittel der Kommunikation, ein Werkzeug, nicht allein dazu, Grenzen zu setzen, sondern auch dazu, sich über die Grenzen hinweg zu verständigen. Dafür, eine neue Übereinkunft zu treffen, an deren Ende schließlich Regeln stehen für das, was heute gesagt werden kann und was eher nicht.

Das klingt natürlich gut. Doch komisch, welche Beispiele ihm einfallen, warum das nicht so richtig zu gelingen scheint: 

Sollte das gelingen, könnte man später verwundert auf diese Umbruchsjahre schauen: ein Politiker, der eines dämlichen Zitats wegen aus seiner Partei ausgeschlossen werden soll; ein früherer Fußballtorwart, den eine einzige Nachricht fast um die Karriere bringt? Ein Schauspieler, der seine Vergangenheit vaporisiert?

Irgendwie seltsam.

Irgendwie seltsam, dass er auch für diese Behauptung die Fakten so weit biegen muss, dass sogar Boris Palmers lange Vorgeschichte rassistischer Entgleisungen  auf ein angeblich einziges angeblich nur “dämliches” Zitat verniedlicht werden müssen. Man kann ja durchaus der Meinung sein, dass die Grünen es übertreiben mit ihrer Reaktion auf den Tübinger Bürgermeister, aber wieso basiert auch hier die Argumentation Hammerlehles auf einer falschen Darstellung der Sachlage? Wieso unterschlägt er, dass die Partei Palmer schon 2020 den Austritt nahegelegt hatte? Und, by the way: Wieso gelingt es dem SPIEGEL-Kulturchef nicht, Rassismus beim Namen zu nennen?

Hammelehle tut so, als ob er gegen das „Grollen“ in der Gesellschaft anschreibt. Doch er ist Teil dieses Grollens. Und er will, dass das Grollen recht behält.

Hier sein Schluss:

Ein wirklicher Bewusstseinswandel aber hätte sich erst dann vollzogen, wenn Elliot Page in aller Selbstverständlichkeit seinen alten Vornamen posten würde.

Er schreibt nicht, welche gesellschaftlichen Veränderungen es geben müsste, damit es Menschen wie Elliot Page möglich ist, in Selbstverständlichkeit ihren alten Namen zu schreiben. Nicht die Gesellschaft muss sich ändern, sondern Elliot Page. Was für ein schlimmer Text. Was für eine böse Pointe.

Ich habe keine Meinung dazu, ob das Nennen des alten Namens Ziel einer solchen Selbstverständlichkeit sein sollte. Aber selbst, wenn es so wäre: Solange es solche SPIEGEL-Artikel gibt, sind wir sehr weit davon entfernt. 

UPDATE, 12. Juli 2021: Das trans-Bashing des SPIEGEL-Kulturchefs widerspricht dem Wunsch von Augsteins Tochter

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